27.04.2022
Matthias Leder

Ist Pippi Langstrumpf eine Lügnerin?

Tatsache ist: Menschen lügen. Aber wann wird aus einer Fantasiegeschichte eine Lüge? Obwohl wir Kindern von klein an beibringen, immer die Wahrheit zu sagen, lernen sie doch alle irgendwann zu lügen. Warum das ein wichtiger Entwicklungsschritt ist und was wir von Pippi Langstrumpf lernen können, weiß unser Autor.

Jeder Mensch lügt bis zu zweihundertmal täglich. Sagt die Wissenschaft, wenn man Berichten aus dem Internet traut. Aber natürlich sind wir nicht alle gleich. Eine umfangreiche Studie des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung Berlin kommt zu dem Ergebnis, dass Männer mehr lügen als Frauen und junge Menschen häufiger als altere. Es gibt die ehrlichen Seelen unter uns, die den Durchschnitt senken, während Politiker, Gebrauchtwagenhändlerinnen und Vorstandsvorsitzende im Ruf stehen, ihn auf seiner beachtlichen Höhe zu halten.
Der Wert von zweihundert täglichen Lügen steht nicht in dieser Studie – ob er womöglich erfunden ist? Bei der Nachricht über unser lügenhaftes Wesen konnte es sich auch um eine Lüge handeln. Tag für Tag zweihundert Lügen – ob wir tatsachlich so produktiv sind? Aber auch wenn wir mit Aufmerksamkeit heischenden Übertreibungen rechnen, deshalb nur von der Hälfte ausgehen und die Zeit, die wir schlafend verbringen, als lügenfrei voraussetzen, blieben bei sechzehn wachen Stunden immer noch gute sechs Lügen pro Stunde. Erinnern Sie sich an Ihre letzte? Sie durfte kaum langer als zehn Minuten her sein.

Zwischen Moral und Anstand

Konnte zwischenmenschliche Kommunikation überhaupt funktionieren, wenn die Lügenquote so hoch wäre? Wer konnte wem noch etwas glauben? Wie kommt es, dass wir in der überwiegenden Mehrheit vertrauensselig für bare Münze nehmen, was man uns auftischt? Wer lugt, geht ein Risiko ein. Wird man überführt, leidet das Ansehen, denn niemand wird gern belogen. Tiefe Kränkungen und Verletzungen werden durch Lügen verursacht. Lügen können Freundschaften und Beziehungen zerstören. Es bedarf keiner Erläuterung, warum Ehrlichkeit als grundlegende moralische Tugend gilt. Von klein auf wird jedem Kind beigebracht, dass es die Wahrheit sagen soll, gerade auch dann, wenn ihm etwas schiefgegangen ist, es eine Regel übertreten oder einen Schaden angerichtet hat. Dass dies so ist, während zugleich Erwachsene bekanntlich mehr lügen als Kinder, wirft eine interessante Frage auf: Funktioniert die Erziehung nicht, bewirkt sie eher das Gegenteil? Soll sie vielleicht gar nicht funktionieren, weil hintergründig ein anderes Ziel verfolgt wird?

Das soziale Schmiermittel

Zwischen Wahrheit und Lüge gibt es schließlich noch die Grauzone der kleinen alltäglichen Schummeleien, an die sich jeder Erwachsene längst gewohnt hat. Wenn die Tante fragt, wie das Essen geschmeckt hat, oder Opa wissen mochte, wie sein Weihnachtsgeschenk gefällt, ist Ehrlichkeit nicht unbedingt oberstes Gebot. Das soziale Schmiermittel der Nettigkeiten und Beschönigungen ist ausdrücklich erwünscht und gilt nicht als Lüge. Jedes Kind steht vor der Herausforderung, im komplexen Feld der sozialen Konventionen und moralischen Regeln diversen Fallstricken auszuweichen. Stressfrei und ohne Auseinandersetzungen lauft dieser Prozess selten ab.

Fast scheint es, als verlangten Erwachsene von Kindern etwas Paradoxes, nicht Leistbares, wenn sie sie der Wahrheit verpflichten. Denn das, was die Erwachsenen Wahrheit nennen, ist für Kinder nicht immer unterscheidbar von dem, was Lüge heißt und verboten ist. Solange Fantasie und imaginierte Wunscherfüllung ihre Wahrnehmung und ihre Gedächtnisinhalte beeinflussen – und ist dies nicht in mehr oder weniger geringem Mase auch noch bei den meisten Erwachsenen der Fall? – kann es nicht gelingen, nichts als die nackte Wahrheit zu sagen. Was ist überhaupt lügen? Manche Kinder erzählen gern wilde Geschichten – aber lügen sie? Der literarische Prototyp eines fantasiebegabten und erzählfreudigen Kindes ist Pippi Langstrumpf. Gleich bei ihrer ersten Begegnung tischt sie ihren künftigen Freunden Thomas und Annika eine Kostprobe auf, als sie nach einem Spaziergang auf dem Rückweg zur Villa Kunterbunt rückwärtsgehend – nur Kinder gehen rückwärts! – an ihnen vorbeikommt.

„Als sie vor Tommys und Annikas Gartentür angekommen war, blieb sie stehen. Die Kinder sahen sich schweigend an. Schließlich fragte Tommy: ,Warum bist du rückwärtsgegangen?‘ ,Warum ich rückwärtsgegangen bin?‘, sagte Pippi. ,Leben wir etwa nicht in einem freien Land? Darf man nicht gehen, wie man möchte? Übrigens will ich dir sagen, dass in Ägypten alle Menschen so gehen, und niemand findet das auch nur im Geringsten merkwürdig.‘ ,Woher weißt du das?‘, fragte Tommy. ,Du bist doch wohl nicht in Ägypten gewesen?‘ ,Ob ich in Ägypten war? Ja, da kannst du Gift drauf nehmen! Ich war überall auf dem ganzen Erdball und habe noch viel komischere Sachen gesehen als Leute, die rückwärtsgehen. Ich möchte wissen, was du gesagt hättest, wenn ich auf den Händen gegangen wäre wie die Leute in Hinterindien.‘ ,Jetzt lügst du‘, sagte Tommy. Pippi überlegte einen Augenblick. ,Ja, du hast recht, ich lüge‘, sagte sie traurig. ,Lügen ist hässlich‘, sagte Annika, die jetzt endlich wagte, den Mund aufzumachen. ,Ja, lügen ist sehr hässlich‘, sagte Pippi noch trauriger. „Aber ich vergesse es hin und wieder, weißt du …‘“

Pippis Geschichten haben ihren Ausgangspunkt häufig in einer Beobachtung aus ungewöhnlicher Perspektive – als ein Kind, das liebend gern auf Baume und Dächer klettert, kennt Pippi Langstrumpf viele Perspektiven auf die Dinge und Menschen – oder einer sprachlichen Wendung, die sie ein wenig anders auffasst als üblich. Ist es nicht sprachlich naheliegend, einen Rückweg eben auch rückwärts zurückzulegen?

Astrid Lindgrens Figur Pippi Langstrumpf ist ein überaus experimentierfreudiges, neugieriges, fantasievolles Geschöpf, das mit offenen Augen durch die Welt lauft und in seiner Entdeckerfreude vor nichts haltmacht. Eines ihrer Lieblingsspielzeuge ist die Sprache, auch mit der Wahrheit muss natürlich experimentiert werden.

Dass die Folgen zuweilen mit den üblichen Moralvorstellungen kollidieren, wird bereits in dieser Anfangsepisode benannt. Annikas erste Äußerung ist ein moralisches Urteil: „Lügen ist hässlich.“ Moralische Konventionen sind das Gebiet der angepassten, stets etwas ängstlichen Annika, ein wenig Auflockerung kann sie gut gebrauchen. Diese bekommt sie von Pippi. Pippi akzeptiert Annikas Urteil („ Lügen ist hässlich“), was sie jedoch keineswegs davon abhält, auch übers  Lügen im Handumdrehen eine weitere Geschichte zu erfinden, welche die bedruckende Wolke moralischer Bedenken wie ein frischer Wind beiseiteschiebt:

„,Und übrigens‘, fuhr sie fort, und sie strahlte über ihr ganzes sommersprossiges Gesicht, ,will ich euch sagen, dass es im Kongo keinen einzigen Menschen gibt, der die Wahrheit sagt. Sie lügen den ganzen Tag. Sie fangen früh um sieben an und hören nicht eher auf, als bis die Sonne untergegangen ist …‘“

Pippi Langstrumpf kann gar nicht anders: Obwohl sie sich selbst als eine Lügnerin bezeichnet, ist sie keine. Ihr fehlt jede Täuschungsabsicht. Im Gegenteil: Pippi ist ein ganzargloses, vertrauensvolles Geschöpf, das stets an das Gute in jedem einzelnen Menschen glaubt und niemandem etwas Böses will. Nicht einmal bei den Dieben, die sich nachts in ihr selbstverständlich unverschlossenes Haus schleichen und es auf ihr Gold abgesehen haben, kommt sie auf den Gedanken, dass diese ihr schaden wollen. Pippi Langstrumpf fiele nicht ein, ihre Starke jemals auszunutzen. Ihre Geschichten sind spontane Eingebung gen einer außergewöhnlich beweglichen Fantasie. Weil jeder Einfall einen nächsten anregt, nehmen sie schnell Fahrt auf. Kein Wunder, dass Astrid Lindgrens Heldin aufseiten der Professoren, Pädagoginnen und Erziehenden anfangs auf moralische Ablehnung stieß, während ungezählte Kinder sie sofort ins Herz schlossen und sich mit ihr identifizierten.

Lügen will gelernt sein

Kinder kommen nicht lügend auf die Welt. Lügen muss man lernen. Ganz einfach ist das nicht. Wer lugt, muss sein Wissen verbergen und etwas, das nicht stimmt, so überzeugend formulieren, dass der Adressat die Geschichte vor dem Hintergrund des eigenen Wissens für glaubwürdig halt. Geschicktes Lügen ist eine Kunst. Schließlich sind nicht alle, die belogen werden sollen, auf den Kopf gefallen. Sie können misstrauisch werden, nachfragen, das Behauptete überprüfen. Soll eine Lüge Erfolg haben, muss sie sich widerspruchsfrei in ein ganzes Gefüge von Wissen und Überzeugungen eingliedern. Erfolgreiches Lügen erfordert viel Umsicht, Empathie und nicht zuletzt ein gutes Gedächtnis. Da kleine Kinder diese hohen Anforderungen gewöhnlich noch nicht erfüllen können, sind ihre Lügen leicht zu entlarven.

Wie entwickeln sie diese komplexe Fähigkeit? Babys können noch nicht lügen, so viel steht fest. Schulkinder hingegen schon. Welche Entwicklungsschritte müssen bewältigt werden? Ist die Fähigkeit zu lügen ein Nebenprodukt der Sprachentwicklung? Oder bedeutet lügen mehr, als etwas zu sagen, das nicht der Realität entspricht? Muss ein Lugner die Welt aus der Perspektive des Gegenübers sehen können? Ein interessantes Beispiel für das kindliche Verständnis von Wissen und Absichten anderer Menschen bietet das Versteckspiel. Jeder kennt das zweijährige Kind, das seine Augen schließt, sich die Hände vors Gesicht halt und sich nun gut versteckt wähnt. Was Kinder selbst nicht sehen, halten sie für unsichtbar, und der Blick des Suchenden auf sein Gesicht ist tatsachlich versperrt. Und ist man ohne sein Gesicht nicht unerkennbar? Dass die Welt aus einer anderen Perspektive anders aussieht als aus der eigenen, ist für Kinder in diesem Alter noch nicht denkbar. Es dauert aber nicht lange, bis sie verstehen, dass zum Verstecken mehr gehört, als selbst nichts zu sehen. Dreijährige verbergen nicht mehr nur das Gesicht, sondern weitere Teile des Körpers. Durchaus kann aber noch ein Fus oder ein Arm aus dem Versteck herauslügen, schwer zu finden sind sie nicht. Zudem sehen sie kein Problem darin, sich immer wieder am selben Ort zu verstecken. Wenn das Spiel zu lange dauert, kommen Kinder in dem Alter sowieso heraus, denn der Hauptspaß besteht für sie im aufregenden Moment des Gefunden-Werdens. Erst Vier- bis Fünfjährige bemühen sich, es dem Suchenden schwer zu machen, und beginnen, die Qualität eines Verstecks zu beurteilen. Dazu müssen sie in der Lage sein, die Perspektive des Suchers zu übernehmen und einzuschätzen, welche Verstecke schwer zu entdecken oder leicht zu übersehen sind. Erst im Schulalter erreichen Kinder die hohe Kunst, sich unbemerkt in ein Versteck zu schleichen, in dem bereits gesucht wurde, sodass es nun besonders sicher ist.

Der Begriff des Lügens ist frühestens auf vier- bis fünfjährige Kinder anwendbar. Lügen setzt eine Fähigkeit voraus, die in der Entwicklungspsychologie Theory of Mind genannt wird und darin besteht, mit Blick auf eigene sowie fremde mentale Zustande eine Metaperspektive einnehmen zu können. Das nennt man Metakognition. Im Gegensatz zur Fantasietätigkeit, die bereits im Alter von circa eineinhalb Jahren nachweisbar ist, bildet diese sich erst ab ungefähr vier Jahren heraus. Es lohnt sich unbedingt, Fantasie als Talent und die bunten Geschichten der Kinder als eine Quelle der Freude zu begreifen. Ihre Geschichten mit Lügen zu verwechseln, beruht auf einer Reihe von Fehlurteilen. Wenn, einer klassischen Definition gemäß, eine Lüge etwas ist, das mit den Mitteln der Sprache die Gedanken verbirgt, dann tun Kinder, die uns ihre Geschichten erzählen, das genaue Gegenteil: Sie lassen uns an ihrer Gedankenwelt teilhaben. Schönere Einladungen, diese innere Welt kennenzulernen, verteilen sie selten. Wir dürfen ihnen aufmerksam zuhören und vielleicht bei passender Gelegenheit die eine oder andere Frage stellen.

Lügen ist ein facettenreiches Thema. Nicht selten sorgt es fur Spannungen zwischen Erwachsenen und Kindern. Das hat naturlich mit Moral zu tun. Der moralische Aspekt blieb in den hier vorgestellten Überlegungen weitgehend ausgeklammert. Vielmehr geht es darum zu verstehen, dass Missverständnisse bei dieser Thematik ganz normal sind. Wenn Eltern, Lehrende oder Erziehende Kinder dafür sanktionieren, dass diese nicht die Wahrheit sagen, können ihnen leicht folgenreiche Fehler unterlaufen. Dann fühlen die Kinder sich missverstanden und unfair behandelt. Einige werden wütend und sinnen auf Rache, andere wiederum ziehen sich gekrankt zurück und verschließen sich vor den Erwachsenen. Moralische Werte wie das Lügenverbot übernehmen Kinder ohnehin nur von Menschen, mit denen sie sich auf der Grundlage einer stabilen, vertrauens- und liebevollen Beziehung identifizieren.

Verbergen, täuschen, lügen – die hohe Kunst des Perspektivwechsels

Verhalten Alter ab ca. Ziel Beispiel
Beispiel Sein Äußeres verbergen 1 ½ Jahre Nicht gesehen werden Hinter den Händen verstecke
Sein Tun verbergen 2 ½ Jahre Nicht bestraft werden Krümel wegwischen
wegwischen Seine Absichten verbergen 3 Jahre Nicht eingeschränkt werden Anschleichen, um etwas umzuwerfen (zum Beispiel einen Bauklotz- Turm)
Seine Gedanken verbergen 3 ½ Jahre Nicht beeinflusst werden Geheimnisse (zum Beispiel ein geheimes Schatzlager)
Jemanden mittels falscher Überzeugung in die Irre führen 4 bis 5 Jahre Sich Informationsvorteil verschaffen Falsche Spuren legen


LITERATUR: LINDGREN, ASTRID (2020): Pippi Langstrumpf. Band 1. Hamburg: Oetinger. 

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