07.05.2020
Matthias Leder ©rudall30/GettyImages
Redaktion

Systemrelevanz: Wer ist die Wichtigste im ganzen Land?

Ärztin, Bäcker oder Klempner. Denken wir mal darüber nach, auf wen es jetzt ankommt. Der Psychologe Matthias Leder hat sich Gedanken gemacht. Und er stellt fest, wer ganz oben auf die Liste der systemrelevanten Berufe gehört – und wer ganz unten.

Text: Matthias Leder
Bild: ©rudall30/GettyImages

Mein persönliches Unwort des Jahres 2020 steht bereits fest. Es ist das Wort „systemrelevant“ und war zu Beginn der Corona-Krise in aller Munde. Menschen, die einen systemrelevanten Beruf ausüben, dürfen für ihren Nachwuchs eine Notbetreuung in Kindergarten oder Schule in Anspruch nehmen. Nur den wirklich Unverzichtbaren soll dieses Angebot offenstehen, als da wären: Ärztinnen und Apotheker, Kranken-und Altenpfleger, Kassiererinnen in Supermärkten und das Personal, das Waren in die Regale räumt. Vielleichtauch die Reinigungskräfte? Wie schön, dass diese Menschen endlich einmal die überfällige gesellschaftliche Anerkennung erfahren!

Richtig, Polizisten zur Überwachung der neuen Corona-Regeln und Feuerwehrleute für Notfälle braucht man auch, nicht zu vergessen die Juristen für unvermeidbare Streitfälle. Damit war die Liste der Unverzichtbaren nun aber vollständig. Bis ein Schlaufuchs feststellte, dass irgendwer die Kinder in der Notbetreuung ja beaufsichtigen musste und dass die dafür prädestinierten Erzieherinnen eigene Kinder zuhause haben konnten. Gut, so wurden sie der Liste der Systemrelevanten hinzugefügt.

Damit die Kranken zum Arzt, die Kinder in die Betreuung und die Lebensmittel in die Supermärkte kommen, braucht es Autos, Busse, LKW und Züge. Busfahrer, Zugführer und LKW-Fahrer werden folglich gebraucht, und ohne die Fachkräfte in den Kfz-Werkstätten geht es ebenfalls nicht. Um in den Supermärkten weiterhin Lebensmittel verkaufen zu können, müssen Lebensmittel produziert werden, Landwirte, Bäcker und Mitarbeiter der Lebensmittelbranche gehören auf die Liste. Für ihre Arbeit benötigen sie große Maschinen und aufwändige Technik, Techniker müssen also arbeiten. Nicht nur Maschinen und Autos gehen kaputt, auch in den Privathaushalten, in denen die weniger Wichtigen ausharren, fallen Heizungen aus, und Wasserrohre bekommen Löcher –schnell noch die Klempner und Installateure auf die Liste!

Sie merken: die Liste wird länger. Sind wir nun endlich fertig? Noch lange nicht, wir fangen gerade erst an. Denn auch in Zeiten von Corona wird gestorben, nicht zu knapp sogar. Bestatter und Friedhofsgärtner sollten wir auf die Liste setzen, meinen Sie nicht? Sie, verehrte Leserin, wünschen für Ihren Vater ein kirchliches Begräbnis, denn dies wäre ihm wichtig gewesen? Gut, dann sind Priester und Pastöre eben auch systemrelevant. Systemrelevante Theologen –wer hätte das gedacht?

Wer in der Corona-Krise Augen und Ohren offen hält, bekommt einen Gratiskurs in Wirtschaftslehre und lernt, wie eng alles mit allem verflochtenist. Man wusste dies vielleicht vorher schon, aber nun spürt man es auch. „Systemrelevant“ ist ein zu kurz gedachter, nicht-systemischer Begriff. Er vernachlässigt die zeitliche Dimension, übersieht die Nebenwirkungen von Nebenwirkungen und teilt die Berufsgruppen völlig zu Unrecht in „wichtig“ und „nicht so wichtig“ ein. Wie lange kann und sollte man beispielsweise auf Lehrer verzichten? Und auf Journalisten? Wie steht es mit Schauspielern, Künstlern, Musikern? Und was funktioniert noch ohne Computerspezialisten? Weshalb stehen sie eigentlich nicht ganz oben auf der Liste?

In einem komplexen Wirtschaftssystem sind alle Berufe systemrelevant, sonst gäbe es sie nicht. Sie haben Einwände? Sie sagen, einige Berufe seien wirklich wichtiger als andere? Sie haben Recht! Es gibt tatsächlich nicht-systemrelevante Berufe wie beispielsweise Börsenspekulanten. Aber die brauchen das Haus ja sowieso nicht zu verlassen.

Matthias Leder ist promovierter Psychologe, Gesprächspsychotherapeut und Integrativer Lerntherapeut. Er ist tätig in der Kinder-und Jugendhilfe.

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