29.05.2020
TPS-Redaktion © Ronnie Kaufman/GettyImages
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Regeln umsetzen – Hört, was die Kinder zu sagen haben

Fünf Kinder dürfen in den Garten. Beim Essen heißt es, Abstand halten. Viele Regeln sind in Zeiten von Corona nicht verhandelbar. Dennoch ist es wichtig, zu überlegen, wie wir Kinder beteiligen können – sagt die Freinet-Pädagogin und Fortbildnerin Helia Schneider. Wie das gelingen kann und warum es so wichtig ist, lesen Sie hier.

Text: TPS-Redaktion
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Keine Frage. Wir alle leben in einer Situation, die neu für uns ist. Wir denken darüber nach, wie wir unter den veränderten Bedingungen leben und arbeiten wollen. Als Pädagoginnenund Pädagogen in Kitas fragen wir uns, wie wir das Wiederankommen und den eingeschränkten Regelbetrieb gestalten können. Viel Fragen treiben uns um: Da sind zum einen die räumlichen Besonderheiten: Sollen wir den Werkraum wirklich öffnen? Was machen Kinder, die nicht in den Garten dürfen, weil dieser von einer anderen Gruppe genutzt wird? Auch Tagesablauf, Rhythmus und Rituale stehen auf dem Prüfstand: Wollen wir weiterhin jeden Tag den Morgenkreis durchführen? Ist es sinnvoll, neue Rituale in den Übergangssituationen einzuführen?

Sorgen bereiteten uns auch organisatorische Erfordernisse wie das Ankommen, die Personalbesetzung oder der Dienstplan: Wie können wir in unserer engen Garderobe mit der Abstandsregel umgehen? Müssen die Kinder am Kita-Zaun abgegeben werden? Über dreißigProzent des Personals fehlt, weil es zur Risikogruppe gehört: Wie können wir das auffangen? Kann die Kollegin mit Teilzeit vorrübergehend in Vollzeit arbeiten?

Bei all diesen Gedanken, die wir uns machen müssen, werden für mein Empfinden die Kinder als Akteure und Betroffene vernachlässigt. Ihre Sicht auf das Geschehen droht unterzugehen. Derzeit wird, vor allem auf Entscheidungsträgerebene, oft über die Kinder hinweg entschieden. Es geht vor allem darum, wie sie sich zu verhalten, was sie zu unterlassen und welche Regeln sie jetzt einzuhalten haben. Die Fachkräfte werden zu Aufsichtspersonen, deren Aufgabe es immer wieder ist, zu ermahnen und Kinder an die Regeln zu erinnern.

Das kann sich auch durchaus auf die Beziehung zu den Kindernauswirken und sich für beide Seiten sehr unschön anfühlen. Im schlimmsten Fall geben Erwachsene nonverbal und unbewusst das Signal: Du könntest mich anstecken. Ich habe Angst vor Dir. Kinder in jungen Jahren können noch nicht einschätzen, was der Erwachsene gerade mit seinem Verhalten zum Ausdruck bringt. Sie fühlen sich in diesen Momenten möglicherweise abgelehnt und in ihrer Person kritisiert.

Es ist deshalb wichtig, mit den Kindern zu sprechen und ihnen zuzuhören, sie nach ihren Gedanken und Gefühlen zu fragen und so natürlich wie möglich mit der Situation umzugehen. Vor allem aber auch, der Partizipation der Kinder im Kita Alltag weiterhin viel Raum zu geben. Kinder kommen mit der Fähigkeit und der Bereitschaft auf die Welt, mit uns zu kooperieren. Siewollen in Beziehung sein, mit anderen Kindern natürlich, aber vor allem mit erwachsenen Bezugspersonen, die ihnen Sicherheit geben und das Gefühl vermitteln, dass sie willkommen sind und ernst genommen werden. Dies geschieht, wenn es den Erwachsenen gelingt, mit den Kindern in eine gleichwürdige, dialogische Beziehung zu treten, die geprägt ist von Resonanz und echtem Interesse an der Wirklichkeit des Kindes. In diesem Verständnis ist es selbstverständlich, Kinder an Entscheidungen, zu beteiligen, die ihr Leben betreffen.

Was kann Beteiligung der Kinder in einem von Corona-Verordnungs-Vorgaben und Regeln geprägten Kita-Alltag heißen? Ich möchte Sie ermutigen zu überlegen, bei welchen Entscheidungen, und seien sie noch so klein, Sie Kinder miteinbeziehen und nach ihren Ideen fragen können.

Natürlich gibt es Dinge, die nicht verhandelbar sind –verbindliche Vorgaben von Träger, Land und Bund. Aber wobei haben Sie Handlungsspielraum? Warum nicht mit der Frage an die herantreten: „Welche Idee habt Ihr, wie wir mit mehreren Kindern raus gehen und uns den Garten teilen können, ohne uns zu nahe zu kommen?“ oder „Wie könnten wir trotzdem über zwei Räume hinweg miteinander in Kontakt sein, uns treffen und reden, ohne uns zu nahe zu kommen?“ oder „Wie könnten wir es machen, dass alle Kinder mal in den Bauraum können, obwohl wir immer nur in der gleichen Kindergruppe sein dürfen?“ Vielleicht kommt der Vorschlag von den Kindern, dass man die Baumaterialien unter den Gruppen aufteilt und in einem bestimmten Rhythmus wechselt und tauscht.

Vielleicht haben die Kinder die Idee, auszumessen, wie viel Platz im Bauraum ist und was das bedeutet für die Anzahl der Kinder, die dort spielen dürfen. Oder dass man innerhalb des Bauraumes eine Abtrennung schafft, so dass zwei Kleingruppen dort spielen können. Vielleicht schlagen sie auch vor, dass man andere Räume der Kita ebenfalls zum Bauen benutzen könnte. Einige Kinder lassen sich gerne auch selbst als „Regelüberprüfer“ benennen und kontrollieren, manchmal strenger als Erwachsene, die Einhaltung der besprochenen Regeln. Dies muss alles im gemeinsamen Gespräch überlegt werden, und die Kinder werden wunderbare Ideen einbringen, wenn man sie fragt.

Natürlich können Sie ergänzend auch eigene Vorschläge einbringen. Könnte anderes Baumaterialaus dem Keller oder dem Abstellraum geholt werden? Dürfen Kinder Baumaterial von zuhause mitbringen, damit mehr zur Verfügung steht? Womit können Sie dem Bedürfnis der Kinder zu bauen und zu konstruieren noch gerecht werden? Dann gilt es die Ideen auf ihre Umsetzbarkeit zu prüfen, gegebenenfalls darüber abzustimmen, und dann wird ausprobiert, ob es klappt!

Gelebte Partizipation bedeutet auch, zu akzeptieren, dass Kinder etwas ablehnen oder verweigern. Möchte zum Beispiel ein Kind das von der Kita zubereitete Essen partout nicht essen, weil es eigentlich gewohnt ist das eigene Frühstück mitbringen, so gilt es das zu akzeptieren. Dann kann in einem Dialog herausgefunden werden, was den Kindern schmeckt, und dies kann im Speiseplan berücksichtigt werden. Möchte ein Kind doch wieder eine Windel tragen, obwohl es eigentlich den Weg auf die Toilette schon gefunden hatte, so ist dies zu respektieren. Die innere Haltung könnte sein: Dieses Kind hat für sich im Moment entschieden, dass es sich mit Windel gerade sicherer fühlt und ich begleite es hierbei. Ich weise es nicht darauf hin, dass es doch schon groß sei und schon die Toilette benutzt habe.

Auch mit Blick auf den Tagesablauf und die Gruppenzugehörigkeit stellen sich Fragen: Haben die Kinder die Möglichkeit zu entscheiden, mit wem aus der festgelegten Kindergruppe sie spielen möchten? Was sie spielen möchten? Wo sie spielen wollen innerhalb der Räume, die ihnen zur Verfügung stehen?

Wie könnte ein Aushandlungsprozess aussehen, wenn zum Beispiel ein Spielzeug in einer Gruppe ist, zu der die Kinder nicht dürfen, weil sie in ihrer eigenen Gruppe spielen sollen? Sammeln Sie mögliche Ideen. Vielleicht schlagen die Kinder vor, dass das Spielzeug im Flur an eine bestimmte Stelle gelegt wird und es dort abgeholt werden kann? Vielleicht wollen sie sich gegenseitig über das Gruppentelefon anrufen, um Dinge zu verabreden oder ein Kind hat das gleiche Spielzeug zuhause, will es mitbringen und dem interessierten Kind zum Spielen ausleihen? Aushandeln bedeutet hier immer mit den Kindern im Dialog nach umsetzbaren –vor allem unter den jetzigen Rahmenbedingungen –Lösungen zu suchen. Da kann es durchaus sein, dass die Kinder auch zur Antwort erhalten: Das geht jetzt nicht, weil ... Wenn Sie das sachlich begründen, zum Beispiel mit den Hygienevorgaben, werden die Kinder es verstehen. Und sie können gemeinsamnach einem anderen Weg suchen.

Wie können sich Freunde begegnen, die in verschiedenen Gruppen sind? Ich bin sicher, dass auch hierzu von Kindern sehr kreative Lösungsvorschläge kommen. Können Sie sich von fest im Wochenplan verankerten Projekten und Angeboten verabschieden und die Kinder danach fragen, was sie machen möchten?

Sicherlich hat in Zeiten von coronabedingter Notbetreuung auch die Beteiligung der Kinder bei bestimmten Punkten Grenzen. So können sie nicht über die Kinderzahl in der Kleingruppe entscheiden oder über die Hygienemaßnahmen, die Art der Mahlzeiten (mitgebrachtes Frühstück wird durch von der Kita gestelltes Frühstück ersetzt oder andersherum) oderbestimmte festgelegte Zeiten. Darüber werden Sie, den Entwicklungsstand der Kinder beachtend, sicherlich auch oft ins Gespräch kommen. Dennoch ist die Beteiligung der Kinder im Alltag wichtig. Sie machen die Erfahrung, dass sie wahrgenommen und ernstgenommen werden, dass sie mitentscheiden und selbstwirksam handeln dürfen. Sie sind nicht machtlos. In einer Zeit, die durch Unsicherheit geprägt ist, ist diese Erfahrung für die Kinder –wie auch für Erwachsene –besonders wichtig.

Das ist ein positiver Aspekt der Notbetreuung: In den Kleingruppen kann auf neue Art und Weise ein guter Kita-Alltag gelebt werden: indem man auf jedes Kind als handelndes Subjekt eingehen kann!

Helia Schneider ist freiberufliche Fortbildnerin für Elementarpädagogik, Autorin, ehemalige Kita Leiterin und zertifizierte Pädagogin der Kindzentrierung (Freinet-Pädagogin).

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