15.11.2022
Nadine Marchi, Florian Esser-Greassidou

Mit Lebensmitteln spielen, gestalten, experimentieren – Ist das okay?

Tastwannen, Selbstmachknete, Nudelketten, Kartoffeldruck, Salzteig, Experimente und Versuche, Fühlerlebnisse: Lebensmittel sind seit langem Spiel- und Lernmaterial in Krippe und Kita. Aber ist das eigentlich noch in Ordnung?

Contra

Zugegeben, vor kurzem habe ich noch einen Beitrag mit einem Rezept für Salzteig geschrieben. Tja, und nun schreibe ich einen „Contra-Beitrag“ darüber, dass man Lebensmittel genau dafür nicht verwenden sollte?

Wir alle dürfen doch lernen, haben in den letzten Jahren und Jahrzehnten unseren Blick geweitet! Ich wünsche mir, dass wir achtsam und respektvoll mit Lebensmitteln – und mit allem anderen ebenfalls – umgehen. Und das ist doch eigentlich gar nicht schwer: Statt Nudeln aufzufädeln, könnten wir doch auch einfach Knöpfe oder Bastelperlen nehmen. Und die Aktionswanne könnte doch statt mit Linsen und Erbsen (Ergotherapeut:innen schwärmen ja immer wieder davon) einfach mit Sand, kleinen Steinen, Granulat, Zapfen, Kastanien oder anderem Material gefüllt werden. Dazu müssten wir eigentlich einfach nur einmal genau hinschauen und Alternativen finden. Es ist ja nicht so, dass wir in den Krippen und Kitas kein Spiel-, Tast-, Fühloder weiteres Material hätten!

Ich bin keine, die mit einem Heiligenschein herumläuft und alles richtig macht. Aber ich bin bereit, mein Verhalten zu reflektieren und mich auf etwas Neues einzulassen. Müssen wir im „Globalen Norden“ Mehl benutzen, um daraus ein Wegwerfspielzeug zu machen, wenn mit dem Krieg in der Ukraine gerade die größte Ernährungskrise der Welt droht? Fühlt es sich da für Sie gut an, Mehl und Öl zum „Matschen“ zu verwenden? Oder Joghurt, weil es so schön kühl ist, wenn man mit den Fingern darin malt? Wer es bisher noch nicht getan hat, der kann sich überall darüber informieren, wie viel Schmerz, Leid und Qual Kühe aus konventioneller Landwirtschaft ertragen müssen, um genau die Milch herauszupressen, die dann als Spiel- oder Experimentiermaterial dient.

Respektvoller, achtsamer Umgang mit Lebensmitteln beginnt ja nicht erst beim Essen (oder Spielen), damit denkt man auch das Wohlergehen von Mensch und Umwelt mit: Hierbei sind wir als pädagogische Fachkräfte Vorbild, wie in so vielen Dingen. Da kommen Sie so schnell nicht raus. Ich jedenfalls habe es mir vorgenommen: sensibel für das werden, was mich im Alltag umgibt! Und damit meine ich nicht nur die Lebensmittel.

Nadine Marchi ist Pädagogin, Sprachexpertin, YogaMotorikerin und Integrationsfachkraft. Seit über 25 Jahren arbeitet sie in Kindertagestätten und fungiert zusätzlich als Dozentin für pädagogische Fachkräfte und Elternworkshops. Seit 2019 ist sie Kinderbuchautorin. Kontakt: www.nadinemarchi-autorin.de

Pro

Viele von uns haben noch aus Kindertagen das Verbot im Ohr: „Mit Essen spielt man nicht!“. Heute wird das Spiel mit Lebensmitteln aus Gründen nachhaltiger Lebensmittelethik neu diskutiert. Doch schadet das Spiel mit Lebensmitteln tatsächlich dem Weltklima und verzieht es die Kinder zu verschwenderischen Erwachsenen?

Aus meiner Sicht spricht nichts gegen die Nutzung ausgewählter Lebensmittel als Spielmaterial. Im Gegenteil: Vieles spricht dafür. Unzubereitete Lebensmittel wie Bohnen, Erbsen, Korn, Linsen, Mais, Nudeln oder Reis bieten den Kindern durch ihre Haptik sinnliches Erleben und basale Stimulation. Form, Farbe und Oberflächenstruktur laden die Kinder zu Sortierspielen ein, helfen ihnen, Größe und Gewicht der einzelnen Lebensmittel zu differenzieren und erste Klassifikationen zu bilden. Außerdem fördern sie qualitative Wahrnehmungserfahrungen, weil Kinder die unbehandelte Beschaffenheit der Lebensmittel ertasten.

Neben dem Tastsinn wird das Hörvermögen gestärkt, indem die Kinder beispielsweise durch ein Akustikmemory in kleinen Döschen die auditive Unterscheidung der verschiedenen Lebensmittel vornehmen.

Alle angeführten Argumente schließen den Aspekt des respektvollen Umgangs mit Lebensmitteln keinesfalls aus. Denn gerade über die intensive Erkundung der Lebensmittel haben diese einen Stellenwert für die Kinder. Sind die Lebensmittel ausgiebig bespielt, lassen sie sich kreativ zweckentfremden und als Bastelmaterial nutzen. Oder im Winter zu Vogelfutter weiterverarbeiten.

Auf diesem Weg werden die Lebensmittel vor der Tonne bewahrt und nachhaltig eingesetzt. So verstehen die Kinder, dass Lebensmittel einem anderen, fortsetzenden Zweck zugeführt werden. Das eröffnet ihren kreativen Horizont und sie erleben, dass es diverse Möglichkeiten zur Verwendung desselben Produkts gibt.

Ich bin dagegen, Kindern den moralischen Druck aufzuerlegen, nach dem Lebensmittel einzig und allein dem Verzehr dienen. Es sollte mindestens die Dimension des sinnlichen Spiels daneben bestehen dürfen.

Florian Esser-Greassidou ist Autor und Qualitätsleitung bei den Villa-Luna-Kindertagesstätten.

 

Ihnen hat dieser Artikel "Mit Lebensmitteln spielen, gestalten, experimentieren – Ist das okay? " gefallen? Weitere Tipps, Wissenswertes und Ideen finden Sie in unserer Zeitschrift KrippenKinder. Hier bestellen!

Diese Produkte könnten Ihnen auch gefallen:

Bitte warten Sie einen Moment.