17.01.2023
Petra Görgen

Keine Zeit, kein Personal – keine Partizipation? Eine kritische Reflexion aus der Praxis

Den Begriff „Partizipation“ finden wir mittlerweile in jedem Einrichtungskonzept. Gut so. Aber wie sieht es mit der Umsetzung aus in Zeiten von chronischem Personalmangel und Zeitdruck? Petra Görgen, selbst Erzieher*in, stellt drei mutige Fragen.

Alle pädagogischen Fachkräfte wissen, was der Begriff Partizipation bedeutet. Dass er in den Kinderrechtkonventionen verankert ist und dass die Bedürfnisse von Kindern in Kindertagesstätten und Krippen berücksichtigt werden müssen. Aber ist das nicht schlicht und ergreifend unrealistisch?

Haben wir Zeit für die nötige Selbstbestimmung der Kinder?

Menschen, die in einer Kita/Krippe arbeiten und gefragt werden, was sie im Alltag am meisten belastet, werden sich in erster Linie nicht über die zu betreuenden Kinder oder manche Eltern beschweren. Sie bemängeln vor allem die fehlende Zeit für das, was ihnen wichtig ist: beispielsweise das Eingehen auf jedes einzelne Kind oder genügend Zeit und Ruhe, um dem Interesse der Kinder entsprechend Spiele oder andere Ideen durchführen oder zu Ende bringen zu können.

Stress und Zeitdruck lassen im pädagogischen Alltag häufig leider nur wenig Handlungsspielraum zu. Pädagogische Fachkräfte haben so viel mehr zu tun, als sich um die ihnen anvertrauten Kinder zu kümmern. Nur ein kleiner Ausschnitt wären Teamgespräche und -sitzungen, Sichten und Organisieren von Wechselwäsche, Windeln und Hygieneartikeln, Aufräumen, Eltern-/Familiengespräche aller Art, Morgen und Schlussdienste …

Wenn wir uns all diese zeitlichen und kräftezehrenden Einschränkungen eingestehen, müssen wir uns fragen, wie viel wertvolle Zeit überhaupt noch für eine Kindergruppe, geschweige denn für das einzelne Kind und seine Bedürfnisse übrig bleibt. Geben wir es doch ganz offen zu: An manchen Tagen bleibt das Wichtige auf der Strecke. Ein Bilderbuch in Ruhe vorlesen zu können, weil ein Kind sich das wünscht, ist dann beispielsweise ein echter Glücksmoment!

Sind uns Regeln und Rituale wichtiger als Bedürfnisorientierung?

In einer herkömmlichen Krippe oder Kita gibt es straffe Strukturen. Diese scheinen notwendig, um ein gewisses Tagesprogramm absolvieren zu können und die Auflagen des Trägers zu erfüllen. Und in jeder Tageseinrichtung für Kinder sind Regeln und Rituale an der Tagesordnung. Sie geben den Kindern Sicherheit. Die meisten Kinder lieben Rituale. Wirklich? Ist das so?

Nochmal zur Erinnerung: Wir reden von unter Dreijährigen. Und wir wissen, dass jedes Kind anders ist. Wo bleibt die Partizipation, wenn sich ein Kind im Morgenkreis müde auf den Boden legt? Wenn Freispiel unterbrochen wird, weil ein anderer Programmpunkt ansteht? Was tun wir, wenn ein Kind es vor lauter Müdigkeit nicht schafft, zu Mittag zu essen? Darf es frühzeitig schlafen oder muss es am Tisch sitzen bleiben und wird womöglich zum Essen „überredet“, weil da die Angst vor den nörgelnden Eltern ist, wenn ihr Kind wieder mal hungrig nach Hause kommt? Geht es hier statt um die Bedürfnisse der Kinder nicht vielmehr um die der Erwachsenen? In einer Gruppe von mehreren Kindern ist das Eingehen auf die individuellen Bedürfnisse des einzelnen Kindes nur dann möglich, wenn wir uns nicht an manchmal unsinnigen Strukturen, Programmpunkten und zu starren Tagesplänen festklammern (müssen).

Wie realisieren wir Partizipation in Zeiten von chronischem Personalmangel?

Nicht nur die Tatsache, dass es in vielen Regionen grundsätzlich zu wenig Personal in Kindertagesstätten gibt, stellt ein Problem dar. Dieser Zustand wird noch verschärft durch infektbedingte Erkrankungen und den dann folgenden Personalausfall im Herbst und Winter. Aber auch sonst im Jahr sorgen Erkrankungen, finanzielle Engpässe, Urlaube, Fachkräftemangel oder Kündigungen für zu knappe personelle Besetzungen.

Was das bedeutet, wissen wir nur zu genau: Der Betreuungsnotfall tritt ein. Dann geht es in erster Linie darum, die Kinder vor dem Schlimmsten zu bewahren und sie, so gut es geht, körperlich zu versorgen – also Essen, Trinken, Wickeln und Schlafen. Und um wenigstens das zu schaffen, bleibt keine Zeit mehr für irgendetwas anderes. Im schlimmsten Fall steigt der Stresspegel an und überträgt sich auf die Kleinen. Viele Kinder weinen, fühlen sich allein gelassen und registrieren, dass sie den Erwachsenen zur Last fallen.

Selbst Erzieher:innen, die das Thema Partizipation leidenschaftlich „leben“, stoßen spätestens jetzt an ihre Grenzen. Und wenn nun eine Situation entsteht, in der besondere Aufsichtspflicht nötig wäre, etwa im Garten beim Spielen oder bei einem Ausflug oder einer Beschäftigung mit Werkzeug oder einem ungewohnten Material?

Fazit

Unendlich viele Bedingungen sind an die partizipative Erziehungsarbeit geknüpft. Alte Konzepte müssten über den Haufen geworfen und neue Ansätze wertgeschätzt werden. Sich den Ursachen von Alltagsproblemen und seiner eigenen Haltung bewusst zu werden, ist ein erster Schritt in die richtige Richtung. Doch auch die Politik muss sich um bessere Bedingungen am Arbeitsplatz kümmern. Hier ist nicht nur die (noch bessere) Ausbildung eines fachlich qualifizierten Personals nötig, sondern auch eine angemessene Bezahlung und ein höherer Personalschlüssel, damit der Beruf des Erziehers und der Erzieherin attraktiver wird und gesellschaftlich mehr angesehen ist. Vor allem aber, damit wir Partizipation nicht nur als gut klingendes Wort verstehen, sondern sie im Alltag mit den Kindern leben und erleben können.

Petra Görgen ist Autorin des Buchs „Sorgenkind Kita“, Mutter von erwachsenen Drillingen und seit mehr als 25 Jahren Erzieher*in. Petra Görgen ist Musiker*in, Grafiker*in, Werbetexter*in und Buchautor*in und setzt sich für die Themen „Gewaltfreie Kindheit“ und „Genderneutrale Pädagogik“ ein.

QUELLEN
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung:

https://www.bmz.de/de/service/lexikon/partizipation-14752
https://www.kinder-und-jugendrechte.de/kinderrechte/recht-aufbeteiligung/artikel-12-beruecksichtigung-des-kindeswillens

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