08.11.2022
Daniela Thörner

„Ich behandle doch alle gleich!“

Diskriminierung hat bei uns keine Chance! Auf den ersten Blick mag man das meinen. Die Realität ist für viele Kinder, Eltern und Kolleg:innen eine andere. Bereits scheinbar beiläufige Kommentare oder Blicke verletzen. Das zu verneinen, hilft nicht. Wir müssen in der Kita alle sichtbar machen und feinfühlig auf individuelle Bedürfnisse eingehen.

„Guten Morgen!“ Mit Betreten des Kitageländes beginnt der Kontakt zu Kolleg:innen, Eltern und Kindern. Manchmal schon auf dem Weg dorthin. Erzieher:innen sind Fachkräfte und gleichzeitig vertraute Bezugspersonen. Viele Kinder verbringen in der Woche mehr wache Zeit mit ihnen als mit ihren Eltern. Auch die Nähe zwischen Erzieher:innen und Eltern ist mitunter erstaunlich, da privater Familienalltag häufig in die Kita schwappt. Zudem kennen manche Kolleg:innen sich untereinander besser und wissen mehr über sich als über Menschen aus ihrem Privatleben.

Denn sie verbringen miteinander viele Stunden und durchleben im turbulenten Kita-Alltag Seite an Seite alle möglichen Zustände. So ist dieser eines ganz besonders: Ein professionelles Privatsein. Wo aber setzt man an dieser Stelle die Professionalität an? Was sollte privat bleiben und welche Identitätsaspekte dürfen oder sollten sichtbar sein? Was bedeutet das für die Zusammenarbeit im Team? Mit Familien? Mit Kindern?

Sichtbar im Team

In manchen Teams geht es sehr kuschelig zu, andere sind eher distanziert. Doch selbst wo es Nähe gibt, sind häufig nicht alle sichtbar. Was ist damit gemeint? Wir alle wurden in eine Welt hineingeboren, die Unterschiede nicht gleichberechtigt nebeneinander wahrnimmt, sondern ihnen eine Wertigkeit gibt. So ist es in unserer Welt beispielsweise von Vorteil, erwachsen zu sein. Erwachsene treffen die Entscheidungen, ihre Stimme hat mehr Gewicht als die von Kindern, und damit liegt die Macht bei ihnen. Ähnliches gilt beim Geschlecht, wenn wir zum Beispiel näher betrachten, welche Berufe ein hohes Ansehen mit gleichzeitig hohem Lohn genießen. Die Positionen, in denen die Menschen mit der meisten Macht sitzen, besetzen in erster Linie Männer.

Vielfalt steht nicht neutral nebeneinander. Es gibt immer Aufwertung und Abwertung, was Vor- und Nachteile zur Folge hat. Das führt dazu, dass man die Aspekte von Menschen, die in einer Gesellschaft angesehen und vorteilhaft sind, selbstverständlicher zeigt. Die Sichtbarkeit von heterosexuellen Beziehungen ist ein gutes Beispiel. Wenigen Menschen fällt auf, dass sie durch selbstverständliche Fotos auf Handyhüllen, Bildschirmbilder oder alltäglichen Bemerkungen wie „Meine Frau …“ deutlich mit ihrer sexuellen Orientierung sichtbar werden. „Mein Mann meinte heute Morgen …“ nimmt man nicht als heterosexuelle Positionierung wahr. Kommt dieser Satz allerdings von einem schwulen Mann, sagt oder denkt man häufig, dass dieser sich mit seiner Lebensform nicht immer so in den Vordergrund spielen solle. An dieser Stelle heißt es wiederholt: „Sexualität ist schließlich Privatsache“. Solche Kommentare passieren nebenbei. Mal im Arbeitskontext, oft auch im Privaten. So werden Menschen unsichtbar.

Was passiert da genau? Die einen erzählen, die anderen bleiben still. So stärkt man indirekt die privilegierte Position weiter und alle anderen werden noch mehr zu einer seltenen, besonderen Geschichte. Wer schweigt? Menschen, die keine Kraft oder Lust haben, das außergewöhnliche Extra zu sein, sich erklären zu müssen oder Sorge vor abwertenden Kommentaren, Gesten und Blicken haben – denn die tun weh.

Man kann diese Gesten, Kommentare und Blicke als viele kleine Stiche bezeichnen, die Menschen zum Schweigen bringen – auch in Kontexten, in denen man sie vielleicht gar nicht austeilt. Aktuell beschreibt man diese Stiche als Mikroaggressionen und ihre weitreichenden Folgen werden zunehmend diskutiert. Viele Teams sind erschrocken, erklärt man ihnen solche Mechanismen. Sie betonen daraufhin, dass so etwas bei ihnen nicht passiert. Allerdings sind wir alle in diese Gesellschaft hineingeboren und merken oft nicht, wie wertend sie ist, solange es uns nicht selbst negativ trifft. Dabei sind die Stimmen der Alleinerziehenden, Patchworklebenden und Bonuseltern in Teams nicht selten leise. Auch die nicht offensichtlichen Migrationshintergründe, Behinderungen oder religiösen Zugehörigkeiten (beispielsweise zum Judentum) sind häufig versteckt. Privatsache, oder doch eher wichtige Identitätsaspekte, die sichtbar sein müssen, wenn wir vorurteilsbewusst und inklusiv arbeiten wollen?

Kolleg:innen, die einen Teil ihrer Identität vor der Kitatür lassen und stets angespannt auf weitere Stiche warten, können nicht ihr volles Potential entfalten. Sie verschwenden Ressourcen, die ihre Konzentration schwächen können und sie anfälliger für Erkrankungen machen. Oft fühlen sie sich weniger zugehörig und gestalten nicht so gern mit. Ihre Perspektive fehlt beim Planen von Bildungsangeboten und in der Zusammenarbeit mit Eltern. Dabei könnten sie wichtige Schlüsselinformationen beisteuern. Damit sich das ändert, braucht es Teamangebote, die die einen empowern, sprich ermächtigen, und die anderen sensibilisieren.

Was ist damit gemeint? Die einen müssen für Vielfaltsdimensionen und Diskriminierung sensibilisiert werden und müssen die eigenen Privilegien begleitet reflektieren. Nur so kann man Wertigkeiten und Ausgrenzung erkennen und angehen. Gleichzeitig müssen von Diskriminierung Betroffene gestärkt werden, damit sie raus aus der Individualisierung und hinein in die Stärkung ihres Selbstwertes finden können. Beides in ein Angebot zu gießen, benötigt Fingerspitzengefühl und Erfahrung. Immer wieder finden wir auch in ein und derselben Person beide Bedarfe. Das ist kniffelig. Generell empfiehlt es sich hier, von erfahrenen Fachkräften begleitet zu werden.

Familien wirklich sehen

Was sind relevante Informationen über Familien? Eine gute Frage. Hier sind sich Kolleg:innen viele Male nicht einig. „Ich brauche nicht so viel zu wissen. Das Kind ist da und ich nehme es ganz individuell wahr. Es zählt doch mein Kontakt im Hier und Jetzt mit dem Kind.“ Ist das so? Reicht das? Kinder sind für Eltern und sehr nahe Bezugspersonen oft das Wichtigste im Leben, auch wenn es nicht immer so scheint. Aber wer entscheidet eigentlich, wie so was aussieht? Kinder machen verletzlich. Kinder können die emotionalsten Seiten von Erwachsenen zum Vorschein bringen. Das macht die Zusammenarbeit mit Familien manchmal so gefühlsstark. „Ist mein Kind hier sicher?“, „Werden wir als Familie wertgeschätzt?“, „Bekommt mein Kind, was es braucht? Oder auch was ich denke, was es braucht?“, „Kann ich mein Kind mit gutem Gefühl in der Kita abgeben?“, „Kann ich vertrauen?“, „Ist mein Kind hier sicher (und zum Beispiel vor Rassismus geschützt)?“.

Damit Kinder positiv in der Kita ankommen können, müssen sie das Gefühl haben, gut gehen zu können. Sie brauchen die Rückversicherung ihrer Liebsten von zu Hause, nur dann können sie sich auf Bildungsangebote einlassen, kann sich ihr Gehirn gut entwickeln.

Was bedeutet es, feinfühlig mit den Eltern zusammenzuarbeiten? Unter anderem muss man regelmäßig den Gedanken zulassen, dass alles vielleicht ganz anders ist, als wir meinen. Türkisch ist nicht immer muslimisch, weiblich nicht immer backbegeistert, jung nicht immer unsicher, genauso wie Patchwork nicht immer Chaos bedeutet. Wenn wir uns erlauben, offen und neugierig hinzuschauen, können wir entdecken, wie häufig erste Annahmen, Stereotype und Vorurteile daneben liegen. Damit das passieren kann, brauchen wir nicht nur echten, interessierten Kontakt zum Kind, sondern auch zu dessen wichtigen Erwachsenen. Wir müssen erkennen und erfahren, wer Diskriminierung zu spüren bekommt und brauchen Basiswissen zu Diskriminierungsmerkmalen wie Hautfarbe, Behinderung, Geschlecht, Herkunft, sexueller Orientierung, sozialem Status, Religion, Lebensalter und Sprache. Nur dann können wir Familien gleichberechtigt wertschätzen und Kinder in all ihren Identitätsaspekten stärken.


 Wer backt einen Kuchen fürs Büfett?

Eltern vorurteilsfrei um ihre Mithilfe bitten

Reflexionsfragen:

  • Wir brauchen einen selbst gebackenen Kuchen, wen fragen wir?
  • Wem unterstellen wir, dass er oder sie gern backt?
  • Bei wem erhoffen wir uns sofort ein unterstützendes Ja?
  • Wen fragen wir nicht und warum eigentlich?
  • Wie fühlen sich die Kinder, der jeweiligen (un-)gefragten Erwachsenen?
  • Warum fragen wir nicht einfach rigoros alle, machen dies auch transparent und schauen, was passiert?

Mögliche Anrede der Eltern: „Könnten Sie für morgen einen Kuchen für uns backen? Nicht wundern. Ich frage heute alle und freue mich, wenn jemand zusagt. Man sieht es Menschen ja nicht an, ob sie gern backen und heute Zeit haben.“
 


Feinfühlig mit Kindern

Feinfühlig im Alltag mit Kindern zu sein, bedeutet, jedem einzelnen Kind aufmerksam und offen zu begegnen. Das sehen viele Kolleg:innen so und leben dies – liebevoll, individuell und mit Hingabe, trotz Zeitnot, Engpässen und wenig gesellschaftlicher Anerkennung. Um die Kinder geht es den meisten. Sie waren der Grund, den Beruf auszuwählen, nicht die Elternarbeit. Mit Kindern zu arbeiten, heißt, die Gesellschaft von morgen ins Leben zu begleiten. Es ist wichtig, einen individuellen Blick auf jedes Kind zu haben. Gleichzeitig muss man die Strukturen, die die Kinder mit unterschiedlichen Ausgangsbedingungen ins Leben starten lassen, sehen und verstehen. Den einen ermöglicht unsere Gesellschaft einen bequemen Schnellstart, die anderen schickt man mit viel Gepäck auf einen komplizierten Hürdenlauf. Was hier schnell passiert, ist, dass wir die Startpositionen von Menschen individualisieren. Beispielsweise stärken die Medien im Hinblick auf den sozialen Status häufig den Gedanken, dass alle die gleichen Möglichkeiten hätten und manche nur zu faul oder nicht in der Lage seien. Sich eben nicht genügend Mühe geben oder individuelles Pech haben. Wir wissen allerdings schon lange, dass ein vermeintliches Versagen im Bildungssystem nichts Individuelles ist, sondern viele Strukturen starke Trennlinien ziehen. Auch unsere Hautfarbe lässt uns (in einigen Fällen selbst vor unserer Geburt) anders ins Leben starten. Kinder, die man ab ihrem ersten Lebenstag allein wegen ihrer Hautfarbe abwertet und zu etwas Besonderem macht, werden dadurch geprägt. Fachkräfte müssen das wissen, verstehen und in ihre Arbeit einbeziehen, wenn sie Kindern gleichberechtigte Bildungschancen ermöglichen wollen. An dieser Stelle brauchen Fachkräfte Unterstützung, Fortbildung und Ansprechpersonen.

Feinfühlig und diversitätsbewusst mit Kindern und Familien umzugehen, gelingt Fachkräften besser, wenn sie wissen, wie es sich anfühlt, ganzheitlich gesehen zu werden. Und sofern sie erleben, dass man sie im Team, durch die Leitung und die Struktur mit all ihren Identitätsaspekten (seien sie selbst gewählt oder hineingeboren) sieht, bedenkt und wertschätzt. Sobald Erzieher:innen das Gefühl haben, einen Teil ihrer Identität am Tor stehen lassen zu müssen, werden sie schneller denken, dass es nicht wichtig ist, Informationen über Familienleben und Vielfaltsaspekte von Kindern in Erfahrung zu bringen. Und sie werden sich weniger bemühen, wertschätzende Sichtbarkeit zu gestalten sowie sich gegen Ausgrenzung und Einseitigkeiten stark zu machen.

Daniela Thörner ist Sozialpädagogin, Diversity-Trainerin und Sexualpädagogin. Sie gibt Fortbildungen und Workshops, hält Vorträge, berät Fachkräfte und gibt Onlinekurse für Leitungskräfte auf www.kibequa.de. Sie ist Autorin des Buches „Mädchen, Junge, Kind“. Und bietet für Eltern zudem Onlinekurse auf www.sonnenscheinzeit.de an. Kontakt: www.daniela-thoerner.de

 

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