02.07.2019
SIMON STREIFFELS
Redaktion

„Hilf mir, es selbst zu tun!“ Was heißt dieses bekannte Zitat für die Arbeit der Erzieherin?

Im großen Durchgangsflur des Kinderhauses St. Cosmas und Damian herrscht reges Treiben. Wie jeden Morgen begrüßt eine Erzieherin die Kinder an der Eingangstür. Die Kinder verabschieden sich und gehen ohne ihre Eltern zur Garderobe. Den Weg bis in den Gruppenraum schaffen nahezu alle Kinder selbstständig.

„Indem die Kinder ohne ihre Eltern in die Einrichtung kommen, wird ihnen sehr viel Unabhängigkeit eingeräumt. Sie haben die Gelegenheit, in ihrem individuellen Tempo anzukommen“, erklärt Tanja Buschhausen, die als Erzieherin mit Montessori-Diplom im Kinderhaus arbeitet.

Henry zieht Hausschuhe an. An der Garderobe stehen zwei Kinder, die ihre Jacken alleine ausziehen und ihre Straßenschuhe gegen Hausschuhe tauschen. Ich bemerke Henry. Er sitzt auf der Bank vor seinem Garderobenhaken und zieht ganz in Ruhe seine Straßenschuhe aus und seine blauen Fußball-Pantoffeln an.

Als er noch jünger war, hat ihn Frau Buschhausen dabei unterstützt. Jetzt kann er es selbstständig. Manchmal zieht er sich den rechten Pantoffel an den linken Fuß und umgekehrt.

„Das sind dann Entenfüße“, sagt Henry. Henry geht frühstücken Nun geht Henry ins Bistro zum Frühstück. Er findet ein reichhaltiges Frühstücksbüffet vor: Brot, Käse, Obst, Gemüse, Wurst und Marmelade. Henry entscheidet sich für ein Knäckebrot und etwas Marmelade.

Er legt Knäckebrot auf seinen Teller und bestreicht es vorsichtig mit Marmelade. Nun nimmt er sich die Kanne und schüttet behutsam Milch in seine Tasse. Anschließend lässt er sich das Frühstück schmecken. Dabei unterhält er sich angeregt mit den anderen Kindern. Nachdem er mit seinem Frühstück fertig ist, stellt er sich an das Spülbecken, spült sein Messer und Geschirr ab. Auch hier geht Henry sehr selbstständig vor. „Was die Kinder noch nicht selber schaffen, muss ihnen von der Erzieherin langsam und präzise gezeigt werden“, so Tanja Buschhausen.

Henry arbeitet an seinem Flaggenheft Nun beginnt Henry mit seiner Arbeit. Er entscheidet sich dafür, an seinem Flaggenheft zu arbeiten. Dazu steht ihm Kartenmaterial zur Verfügung, auf dem jeweils eine Nationalflagge, der Umriss des Landes sowie der Name des Landes in Druckbuchstaben abgedruckt sind. „Ich male Portugal, die sind Europameister geworden!“ berichtet er stolz einem anderen Mädchen. Er beginnt damit, die Flagge in den entsprechenden Farben auszumalen. Danach nimmt er sich aus einem „Europa-Puzzle“ das Puzzlestück, welches den Um- riss von Portugal abbildet. Dieses legt er behutsam unter die ausgemalte Flagge. Mit einem Bleistift umfährt Henry vorsichtig den Umriss von Portugal. Nun malt er die Fläche mit einem orangefarbenen Buntstift aus. Nachdem er damit fertig ist, schreibt er mit einem Bleistift das Wort „Portugal“ ab.

Henry erfährt durch diese Übung, dass es drei wesentliche Zeichen für ein Land gibt. Erstens: Jedes Land hat eine eigene Nationalflagge. Zweitens: Der Umriss von Ländern ist sehr verschieden. Daher können wir Länder manchmal allein am Umriss erkennen. Drittens: Jedes Land hat einen Namen. Diesen können wir aussprechen, lesen und aufschreiben.

„Diese Tätigkeit ist keine direkte Vorbereitung auf das Schreiben, sondern eine indirekte“, erklärt Tanja Buschhausen. „Viele Kinder waren wegen der Fußball-Europameisterschaft plötzlich an dem Flaggen-Material interessiert. So ist Henry auf die Möglichkeit gestoßen, ein Flaggenheft zu erstellen. Nun macht er über diese Tätigkeit erste Schreibübungen.“ Materialien vorbereiten und einführen Das Material wurde von den Erzieherinnen so gestaltet, dass Henry selbsttätig damit arbeiten kann. Er kann unabhängig vom Erwachsenen nach seinem eigenen Tempo an seinem Flaggen-Heft arbeiten. Die Erzieherin hat im Vorfeld die Materialien zusammengestellt und Henry erklärt, wie der Arbeitsplatz mit den benötigten Materialien vorbereitet werden muss. „Meine Aufgabe ist nicht, Kindern direkte Beschäftigungsangebote zu machen, sondern ihnen eine anregungsreiche Umgebung zu gestalten“, sagt Tanja Buschhausen.

„Manchmal vergeht eine gewisse Zeit, bis die Kinder meine Unterstützung einfordern. Die Kinder sind sehr selbstständig und treffen selbst die Entscheidung, mit welchem Material oder mit welchem Kind sie sich wie lange beschäftigen wollen. Wenn alle Kinder beschäftigt sind, halte ich mich zurück und beobachte sie bei ihrer Tätigkeit“, erklärt sie.

Eine wesentliche Aufgabe der Erzieherin ist die Beobachtung der Kinder während ihrer Tätigkeit. Nur so können sie die Lernumgebung nach den Interessen und Bedürfnissen der Kinder gestalten. In den Regalen steht Kindern das klassische Montessori-Material zur Verfügung sowie zahlreiche „Übungen des täglichen Lebens“. Diese werden von den Erzieherinnen jeden Tag auf ihre Vollständigkeit und Funktionalität hin überprüft.

Marie baut den rosa Turm auf Marie, vier Jahre, legt einen Arbeitsteppich auf dem Boden aus und beginnt damit, den „Rosa Turm“ aus dem Regal am anderen Ende des Raumes zu holen. Ein kleiner Kubus bildet die „Spitze“ des Turmes.

Diesen nimmt Marie aus dem Regal und bringt ihn zum Teppich. Dazu hält sie den Kubus zwischen den Zeigefingern ihrer beiden Hände. Sie legt den Kubus vorsichtig auf den Teppich und geht zum Schrank zurück, um den nächsten Kubus zu holen, jeden einzeln, bis alle zehn rosafarbenen Kuben auf dem hellblauen Teppich liegen.

Nun beginnt sie, damit den Turm aufzubauen. Sie greift vorsichtig nach dem größten Kubus und setzt diesen vor sich auf den Teppich. Marie nimmt einen kleineren und stellt diesen bündig neben den anderen Kubus. Vorsichtig streicht sie mit ihren Fingerspitzen über die Kanten. Dann setzt sie den zweiten Kubus auf den ersten und gleitet mit den Händen an den Seiten der Kuben von unten nach oben entlang. Bei dieser Tätigkeit sind Maries Bewegungen äußerst vorsichtig und präzise. Sie fährt mit dem Aufbau des Turmes fort, bis an zehnter Stelle der kleinste Kubus die Spitze des Turmes bildet. Marie betrachtet ihren Turm. Sie scheint stolz auf ihr Ergebnis zu sein.

Frau Buschhausen hat sich neben Marie gesetzt, um bei ihrer Arbeit zuzusehen. Sie schlägt ihr vor, eine weitere Übung mit dem „Rosa Turm“ durchzuführen. „Marie arbeitet öfters mit dem Turm. Der präzise Aufbau wurde ihr in einer Einführung gezeigt“, berichtet Tanja Buschhausen. Dabei ist es wichtig, dass die Erzieherin sich ganz dem Kind und seiner Aufgabe zuwendet. Während einer Materialeinführung agiert die Erzieherin nicht mit vielen Worten. Sie zeigt dem Kind die Funktion des Materials durch langsame Bewegungen. „Diese sind wichtig, damit die Kinder den Ablauf nachvollziehen können“, erklärt  Frau Buschhausen.

Bevor die Funktion des Materials bei einem Kind eingeführt wird, gibt die Pädagogin ihm ausreichend Zeit, sich selbstständig mit dem Material zu beschäftigen. „Wenn das Kind eine Weile ausprobiert hat, biete ich  mich an und zeige.“ ergänzt Tanja Buschhausen. So hat auch Marie den Aufbau des „Rosa Turms“ gelernt. Und jetzt ist die Zeit gekommen, in der weitere Übungen sowie konkrete Wortlektionen erarbeitet werden können.

Den eben beschriebenen Tätigkeiten, den „Übungen des täglichen Lebens“, kommt in der Montessori-Pädagogik ein hoher Stellenwert zu (siehe auch Karte Nr. 3 im zugehörigen Materialpaket). Sie geben dem Kind vielfältige Gelegenheiten, vom Erwachsenen unabhängig zu handeln. Sie fördern die motorische Entwicklung und die Bewegungskoordination. Dadurch entwickeln Kinder Handlungssicherheit, was wiederum ihr Selbstwertgefühl positiv bestärkt. Insbesondere durch die Übungen des täglichen Lebens und das didaktische Material unterscheidet sich eine Montessori-Einrichtung von anderen Kindertagesstätten.

Das Kinderhaus versteht sich als ein Ort, an dem Kinder ihren Bedürfnissen und Interessen entsprechend lernen können. Die Umgebung ist – primär durch das Mobiliar – der kindlichen Körpergröße angepasst und verfügt über Arbeitsund Lernmaterialien, die den Drang der Kinder nach Selbstständigkeit und Selbsttätigkeit entgegenkommen und ihnen ganzheitliche Erkenntnisse ermöglichen.

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