12.03.2021
Sibylle Fischer

"Die Schokolade fasse ich nicht an"

Rassismus, klar, das gibt’s – aber doch nicht bei uns in der Kita! Oder doch? Unsere Autorin legt den Finger in die Wunde und zeigt, wie wir unser Handeln reflektieren und Kinder zum kritischen Denken über Privilegien anregen können.

Rassismus will erst mal eines: Menschen herabwürdigen. Mit konstruierten Merkmalen werden stereotype, bewertende Eigenschaften verbunden, individuelle Kriterien finden keine Beachtung. Und Abwertungen einer Gruppe dienen dann dazu, die eigene Position aufzuwerten. Rassismus stellt damit eine Hierarchie zwischen Menschen her, die ständig stabilisiert und an die nächsten Generationen weitergegeben wird. Rassismus wirkt als Alltagsrassismus etwa durch Ausgrenzung und Beleidigung eines schwarzen Kindes in einer Einrichtung. Die Bildungsbenachteiligung von Kindern mit einer anderen Erstsprache als Deutsch kann institutionellen Rassismus repräsentieren. Dabei wird nicht die Einrichtung oder Institution als rassistisch betrachtet, sondern Regeln, Normen oder Standards, die Fachkräfte, die in diesen Institutionen arbeiten, zu rassistischem Handeln anleiten. Äußern kann sich das in niedrigeren Erwartungen an Kinder aus zugewanderten Familien.

„Ich bin nicht rechts, aber ...“

In unserer Gesellschaft besteht weitgehend Übereinstimmung bei der moralischen Verurteilung von Rassismus. In Diskussionen darüber, ob eine Aussage oder eine Handlung rassistisch ist, zeigen sich aber unterschiedliche Sichtweisen. Einerseits kann Rassismus sich deutlich in Form von Beleidigungen, etwa in der Benutzung des N-Wortes, und herabwürdigenden Handlungen zeigen, andererseits erscheint er auch ganz subtil in unbewusst geäußerten Vorurteilen, wie etwa: „In Katjas Gesicht ist deutlich ihre slawische Herkunft zu erkennen, schau dir nur die hohen Wangenknochen an.“
Aber auch im Nichtbeachten oder in einseitigen Darstellungen von People of Color kommt Alltagsrassismus zum Vorschein. In Kindertagesstätten kann sich das in einseitigem Material und Spielmitteln manifestieren: fehlende Puppen unterschiedlicher Hautschattierung oder fehlende Farbstifte, welche die Darstellung der individuellen Hautfarben von Kindern ermöglichen, oder einseitige Rollenzuschreibungen wie der schwarze Bauarbeiter und der weiße Polizist in Bilderbüchern. Gruppeneinteilung oder Zuschreibung von Merkmalen reichen jedoch nicht aus, um Rassismus zu erklären. Ein weiterer Aspekt von Rassismus ist die Abwertung von Menschen aufgrund von diesen konstruierten Zugehörigkeiten. Die sogenannten anderen stellen in Kindermedien mitunter ein einfaches, traditionelles Bild von Gruppen dar, während das Wir als fortschrittlich und modern dargestellt wird. In vielfältigen Situationen geschieht diese Einteilung unbemerkt und ohne boshafte Absicht. Ein unbedacht ausgewähltes Bilderbuch zu Afrika kann zu einer einseitigen sowie entwicklungs- und hilfsbedürftigen oder exotisierenden Vorstellung der Kinder aus einem afrikanischen Land beitragen. In solchen Büchern finden sich häufig rassifizierende Begriffe wie „fremdes Volk“ und klischeehafte Bebilderungen: schwarze Menschen mit Lendenschurz und Speer, Gesichtsbemalungen, überbetonten Lippen und in einfachsten Behausungen lebend. Der zivilisierte Westen könnte sich hingegen durch vielfältige Menschen und regional unterschiedlichen Wohnformen auszeichnen. Auch weiße Hauptfiguren, die sich durch besondere Taten hervorheben, wie in vielen klassischen Kinderbüchern, sind Folien des zivilisierten Westens. Wer kennt sie nicht, die Heldinnen und Helden der eigenen Kindheit wie Pippi Langstrumpf, das ungestüme, mutige Mädchen? Bei genauem Hinschauen zeigen sich in diesen Geschichten jedoch auch klassische Abbilder weißer Herrschender und Dominanzverhältnisse, wie Psychologin und Soziologin Maureen Maisha Eggers in ihren Kinderliteraturuntersuchungen feststellt. Pippis Vater wird weißer König auf Taka-Tuka und bezeichnet die dort lebenden Menschen als „Untertanen“, die im Buch als gesichtslose Masse dargestellt und mit kolonialistischen, rassistischen Klischees belegt werden.
Bei der Auswahl von Material, Spielen und Medien können sich pädagogische Fachkräfte fragen, ob hier Gleichwertigkeit repräsentiert und zu kritischem Denken über Privilegien angeregt wird.
Nicht nur in Medien und Material kann Rassismus in der Kita vorkommen, sondern auch zwischen den Kindern oder im Handeln von pädagogischen Fachkräften, wie folgende Szenen veranschaulichen:

  • Im Bewegungsraum initiiert eine Fachkraft ein Spiel, bei dem sich die Kinder an den Händen fassen. Luisa hält ihre Hand hinter den Rücken und sagt zu Myriam gewandt: „Die Schokolade fasse ich nicht an!“
  • Im Garderobenbereich unterhalten sich Eltern, während sich ihre Kinder umziehen. Eine Mutter sagt zur anderen: „Ich weiß nicht, wie das werden soll, wenn jetzt diese Flüchtlingskinder hier in die Kita kommen. Bestimmt sinkt dann das Niveau und unsere Kinder werden nicht mehr ausreichend gefördert. Und wer weiß, ob die Hausschuhe unserer Kinder morgens noch am Platz stehen.“

Hier zeigt sich, dass rassistische Positionen häufig ganz selbstverständlich kundgetan werden. Sie können allesamt eine große Herausforderung oder gar Überforderung für Fachkräfte darstellen, und manchmal machen sie schlicht sprachlos. Bleibt allerdings eine eindeutige Reaktion der Fachkräfte aus, kommt dies einer Zustimmung gleich. Kinder lernen im Alltag, was als selbstverständlich betrachtet wird, was gesagt werden kann und scheinbar von der sozialen Gruppe mitgetragen wird. Dabei entwickeln sie ein Bewusstsein für rassistisch konstruierte Differenzen und Wertigkeiten einer Gruppe. Sie lernen, welche Gruppe zu den machtstarken zählt und welche zu den machtschwachen. Und sie verinnerlichen, welcher Gruppe sie zugeordnet werden. Jene, die selbst von solchen herabwürdigenden Äußerungen betroffen sind, verinnerlichen Minderwertigkeit, während andere Kinder in ihrem Dominanzverständnis gestärkt werden. Machen Fachkräfte hingegen deutlich, dass sie mit dem Gesagten nicht einverstanden sind, stärken sie alle Kinder darin, kompetent mit Ungerechtigkeiten umzugehen. Ein Patentrezept gibt es hier allerdings nicht. Es ist immer situationsbedingt zu entscheiden, welche Antwort passt.

Auf die Haltung kommt es an!

Entlang der Szene im Bewegungsraum, wo das Kind die Hand des dunkelhäutigen Mädchens nicht halten will, könnte Haltung zeigen so aussehen:

  • Das diskriminierte Kind stärken: Die Fachkräfte stärken das diskriminierte Kind und unterstützen es darin, seine Handlungsfähigkeit wiederherzustellen: Dem Kind unmittelbar Zugewandtheit signalisieren, es berühren und trösten: „Lasst uns mal den Kreis schließen, darf ich dir meine Hand geben, Myriam? Das war unfair von Luisa, dich so zu nennen.“
  • Sofort reagieren: Fachkräfte beziehen umgehend Stellung, schaffen Raum für Perspektivübernahme und Empathie. Deutlich machen, dass Identitätsmerkmale kein Grund für Herabsetzungen oder Ausgrenzungen sind. An alle Kinder gewandt: „Wenn wir uns gegenseitig beleidigen, ist das sehr verletzend. Das tut weh, macht uns traurig. Jeder Mensch ist so, wie er ist, genau richtig. Wir haben vieles gemeinsam und vieles unterscheidet uns voneinander. Das ist ein großer Schatz.“
  • Wissen vermitteln: Von der emotionalen Ebene auf die Sachebene gelangen. Den Kindern sachrichtiges Wissen über Vielfalt und Verschiedenheit vermitteln. So kann ein Bewusstsein dafür gefördert und der respektvolle Umgang miteinander betont werden: „Schaut mal alle euren Unterarm an. Wir alle haben Haut, die uns wie ein Schutzmantel umgibt. Obwohl sie bei uns allen die gleiche Funktion hat, sieht sie bei jedem von uns anders aus. Manche haben Sommersprossen, andere feine helle oder dunkle Härchen und tatsächlich haben wir alle eine andere Hautfarbe.“
  • Sich um das Kind kümmern, das ausgrenzt: Das konkrete Verhalten, das nicht in Ordnung ist, benennen, ohne das Kind zu beschämen oder das betroffene Kind zu exponieren. Sie finden im Einzelkontakt die Gründe für das Verhalten des Kindes heraus und motivieren es, einen Perspektivenwechsel einzunehmen: „Kannst du dir vorstellen, wie sich die Myriam gefühlt hat in dieser Situation?“

Auch gegenüber Erwachsenen gilt es, Haltung zu zeigen. Das könnte am Beispiel des Gesprächs der beiden Mütter im Garderobenbereich so dargestellt werden:

  • Stellung beziehen: Die Fachkräfte beziehen unmittelbar Stellung und stehen für eine solidarische Grundhaltung ein, Diskriminierung bezeichnen sie als solche. Dabei Inhalt des Gesagten und Person voneinander trennen. „Ich nehme Ihre Sorge wahr, dass Ihre Kinder durch die Aufnahme geflüchteter Kinder zu wenig Aufmerksamkeit erhalten und dadurch möglicherweise in ihrer Entwicklung zu wenig unterstützt werden. Wichtig ist mir zu betonen, dass uns jedes einzelne Kind wichtig ist, und in unserer Kita alle Kinder und Familien, unabhängig von ihrer Herkunft, von Herzen willkommen sind. Wir möchten keine Kinder und Gruppen gegeneinander ausspielen.“
  • In Ruhe sprechen: Die Fachkräfte bleiben im Gespräch, ohne sich moralisch überlegen zu fühlen. In Einzel- oder Gruppengesprächen den Bezug der Beteiligten zum Thema ergründen und Motivation herausfinden. Informationsmängel aufzeigen und emotionalisierte Diskussionen versachlichen. „Mich würde interessieren, was Sie zu Ihrer Sorge veranlasst. Das würde ich gerne in Ruhe mit Ihnen besprechen, sehr gerne, bevor Sie heute Ihre Kinder wieder abholen.“ Durch Fragen unterstützen Fachkräfte das Gegenüber bei der Konkretisierung der Aussagen. „Warum denken Sie, dass sich das Sprachniveau ändert? Woran genau denken Sie, wenn Sie glauben, dass Ihre Kinder weniger Aufmerksamkeit erhalten?“ Fachkräfte zeigen auf, was an den Aussagen problematisch ist und wie sie sich auf die Entwicklung von Kindern auswirken.
  • Fakten vermitteln und Empathie fördern: Fachkräfte entdramatisieren die Situation und schaffen Zugänge für Perspektivenwechsel und Empathie. Durch Fakten, Differenzierungen, Vergleiche und Argumente können sie nicht legitime Bewertungen abbauen. „Wir sind ausgebildet für die pädagogische Arbeit in heterogenen Gruppen. Unser Beobachtungssystem ist Ihnen doch vertraut. Sie können daran erkennen, dass wir jedes Kind im Blick behalten. Das werden wir auch weiter tun. Ausgrenzung von Menschen mit Fluchterfahrung hingegen führt zu weiterer Ausgrenzung. Wir lernen nur miteinander umzugehen, wenn wir uns voll Wertschätzung begegnen. Haben Sie sich schon mal gefragt, was die Eltern zum Wohlbefinden geflüchteter Familien beitragen könnte?“

Für einen bewussten Umgang mit Rassismus braucht es mutige Fachkräfte, die sich im Handeln und Sprechen hinterfragen und gemeinsam im Team eine kritische Haltung entwickeln. Es braucht den Willen und die Bereitschaft, öffentlich Haltung zu zeigen – auch dann, wenn es unbequem wird.

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