02.07.2019
Renate Zimmer
Thinkstock

Auf die Sinne, fertig, los!

Dieser Dreck, den wir Erwachsenen so gar nicht mehr anfassen wollen – für Kinder ist er das pure Vergnügen! Erfahrungen aus erster Hand können kein Tablet, Bilderbuch oder Foto vermitteln. Es lohnt sich, die eigene Abneigung zu überwinden und sich von Kindern ins Reich der Sinne entführen zu lassen.

Erde – mal ist sie krümelig, sandig, matschig, fest, hart oder weich – und immer steckt sie voller Herausforderungen für die Sinne. In den ersten Lebensmonaten sind Kinder noch ganz nah an der Erde, liegen auf dem Bauch auf dem Boden, robben und krabbeln und untersuchen dabei ganz genau jeden kleinen Krümel, den sie finden. Sie heben ihn auf, betrachten ihn, zerreiben ihn mit den Fingern und – wenn die Erwachsenen in ihrer Nähe nicht aufpassen – stecken ihn in den Mund.
Erde ist für Kinder eben nicht dreckig, schmutzig, nicht „Bäh!“, wie die Erwachsenen oft warnend ausrufen, sondern eine interessante Materie, die mit allen Sinnen erkundet werden will.
Kleinkinder haben noch ein ganz ungebrochenes Verhältnis zur Erde. Sie explorieren und wollen den Erdboden kennenlernen – und dabei sind alle Sinne beteiligt.
Immer sind Sinneswahrnehmungen auch mit Gefühlen verbunden, mit Erstaunen, Freude, Angst, Aufregung oder Spannung. Wenn die Kinder älter werden, ist das Kriechen und Krabbeln über den Boden nicht mehr so selbstverständlich. Von den Eltern wird ihnen das Interesse an der Erde auch oft abgewöhnt. Aber wenn die Erde im Kindergarten dann freigegeben worden ist, dauert es nicht lange, bis Kinder wieder auf dem Boden kauern. Sie knien und liegen, um die Erde aus nächster Nähe zu betrachten und sie anzufassen. So wird aus dem vermeintlichen Dreck ein Ort voller Schätze. Mit Steinchen, Wurzeln, Blättern, Käfern, Würmern oder Ameisen, die Fragen bei den Kindern entstehen lassen.

Alle Sinne sind wach!

Betasten und Berühren, Beobachten und Entdecken, Finden und Bestaunen. Damit diese Prozesse entstehen, bedarf es Situationen und Anlässe, die das Interesse des Kindes wecken und es neugierig machen – solche, in denen es selbst tätig werden kann. Die Sinne sind wie Antennen, über die das Kind mit der Umwelt kommuniziert. Sie sind die Nahtstelle zwischen innen und außen, zwischen dem Menschen und der Welt. Für Kinder stellt die sinnliche Wahrnehmung den Zugang zur Welt dar. Dabei ist sie die Wurzel jeder Erfahrung, durch die die Welt um sie herum jeweils neu aufgebaut und verstanden werden kann.

Temperaturen (warm oder kalt), Texturen (rau oder glatt), Formen (eckig oder rund) – unsere Haut empfängt ständig Signale.

Die Sinne liefern dem Kind viele Eindrücke über seine Umwelt und über sich selbst. Sinnliche Wahrnehmung ist die Grundlage aller Erkenntnis: Sensorisch Erfahrenes führt zu neuen Fragen und zum Weiterforschen. Gleichzeitig wird die Wahrnehmungsfähigkeit weiter ausdifferenziert, die Selbsttätigkeitdes Kindes angeregt und die Beobachtungsfähigkeit geübt:

  • Warum ist nasse Erde schwerer als trockener Sand?
  • Warum hinterlässt das Gehen im Kies keine Spuren?
  • Wo kommt man an, wenn man ein Loch in den Boden gräbt und immer tiefer und tiefer gerät?

Im Spiel mit den Elementen der Natur gewinnen die Kinder Erfahrungen aus erster Hand, die nicht von anderen aufbereitet und bewertet werden, sondern beim eigenen Tun entstehen.

Mit allen Sinnen die Welt erfahren Das Spielen mit Erde, Wasser und Sand bereitet Kindern ein zutiefst sinnliches Vergnügen. Die Haut ist das ausgedehnteste Sinnesorgan unseres Körpers. Über die Haut nehmen wir einerseits passiv Berührungen wahr, gleichzeitig erkunden wir jedoch auch aktiv über das Berühren unsere Umwelt. Fühlt sich ein Gegenstand warm oder kalt an, ist er spitz, eckig oder rund?
Dicht unter der Haut sitzen die Tastkörperchen – kleine Zapfen, in denen sich empfindliche Nervenzellen befinden. Wenn sie bei Berührung der Haut einen leichten Druck verspüren, erzeugen sie ein winziges elektrisches Signal. Es wird über die Nervenbahnen zum Gehirn geleitet. Dort werden die Informationen  bewertet (angenehm oder eklig?) und mit früheren Erfahrungen verglichen. Es werden Handlungen eingeleitet, die wieder zu neuen Wahrnehmungen führen. Die meisten Tastkörperchen befinden sich an Handtellern, Fingerspitzen und Fußsohlen. Hier sind wir besonders empfindlich. Mit den Fingerspitzen können wir jedoch auch am differenziertesten wahrnehmen.

Erde ist nicht gleich Erde

Kinder und Erwachsene haben ganz unterschiedliche Perspektiven auf den Boden, auf die Erde. Erwachsene nehmen den Ort, auf dem sie stehen und gehen, kaum wahr, es sei denn, er ist rutschig, glitschig oder uneben. Dann heißt es: „Aufpassen!“ Erde wird meist als Pflanzerde betrachtet  – ein Ort, in den wir Blumen und Pflanzen einbringen können und an dem wir Unkraut entfernen. Erwachsene vermeiden häufig den direkten Kontakt mit Erde und tragen Gummihandschuhe.
Kinder haben dabei ein ganz anderes Verhältnis zur Erde – sie nehmen sie als elementares Material, das genau untersucht werden will, wahr. Zudem bietet sie ihnen viele Spielreize. Für sie ist es schon interessant, ein Stück offene Erde im Kindergarten zu haben. Diese unberührte Erde lädt zum Löchergraben, Erdschichtenuntersuchen und Dämmelegen ein. Um das Thema Erde im Kindergarten intensiver aufzugreifen (und nicht dem zufälligen Spiel der Kinder zu überlassen), können verschiedene Erdsorten in Eimern von den Kindern zusammengetragen werden: vom Feld, aus dem Wald, von der Wiese, aus dem Garten, dem Bach, sodass sie in ihnen wühlen, mit den Händen oder Schaufeln graben und sie erforschen können.
Die Kinder finden heraus: Erde kann trocken und sandig sein. Je mehr Lehm enthalten ist, umso besser klebt sie und lässt sich formen und gestalten. Mit Wasser vermengt ändert sich die Konsistenz, aus der sandigen Erde wird eine klebrige Masse, ein Klumpen, der sich gut formen lässt. Spannend ist es herauszufinden, welche Erde mehr Sand, Lehm oder Humus enthält. Dazu brauchen wir die bloßen Hände, die Finger, die tasten, reiben und drücken. Ist der Boden weich oder hart, trocken oder feucht, kitzlig oder glatt? Die Diplom- Pädagogin Gisela Walter merkt an, dass Kinder all das erkunden und davon berichten. Auch Schnuppern hilft dabei: Riechen die Erdsorten anders? Neben dem üblichen Sandkasten kann es im Kindergarten auch einen Erdkasten geben. Eingefasst mit Brettern oder einfach nur auf dem Boden aufgehäuft. Hierauf kann man eine Erdburg bauen, Lkws und Autos darauf fahren lassen, Bälle rollen. Die Kinder können auf die Suche nach Kleinstlebewesen gehen.

Erde und Wasser

Die zwei Elemente Erde und Wasser gehören für sich schon zu den schönsten Spielmaterialien der Kinder. Werden sie miteinander gemischt, entsteht ein „fünftes Element“ – der Matsch. Er weckt das kreative Spiel der Kinder in besonderer Weise. Der Sinn des Matsches wird beim Spiel hervorgebracht, er wird von den Kindern hineingedeutet. Er trägt keinen Sinn als sich selbst. Erde, Lehm, Matsch und Sand sind Werkmaterialien, die offen sind für vielfältige Spielideen. Das Material legt das Spielverhalten nicht fest, es erlaubt eine Vielzahl von Spielweisen und Deutungen. Manche Kinder haben Hemmungen, mit Erde zu spielen und trauen sich kaum, mit ihren Händen in der Erde zu graben, zu wühlen, damit zu manschen und zu matschen. Dies ist meist die Folge eines übertriebenen Hygienedenkens und Sauberkeitsfanatismus vieler Eltern, die über den Dreck empört sind.

Wer lebt auf dem und im Boden?

Eine große Wiese fordert auf zum Rennen, zum Toben und zu Spielen mit Nachlaufen und Fangen. Aber auf der Wiese leben auch viele Kleintiere, die mit dem bloßen Auge kaum zu erkennen sind. Kinder können nach Bodentieren Ausschau halten. Manchmal verbergen sich diese auch unter einem Stein, einer Bodenplatte. Sie sind oft so winzig klein, dass sie nur mit einer Lupe betrachtet werden können. Aber dann eröffnen sich ungeahnte Entdeckungen. Die Bodentierchen machen die Erde fruchtbar, sie fressen die herabgefallenen Blätter, verdorrtes Gras und hinterlassen dabei Nährstoffe, die die Pflanzen zum Leben brauchen. Noch ist der Forschungseifer der Kinder nicht der Angst oder dem Ekel gewichen, den viele ältere Kinderbei der Begegnung mit den kleinen Tierchen (Spinnen, Regenwürmer, Käfer) äußern. Mit Spannung verfolgen sie ihren Weg und beobachten ihre Bewegungen. Schnell kann eine Entdeckung zu weiteren Fragen führen. Beim Streifzug
über die Wiese hat Tom einen Maulwurfshügel entdeckt – einen großen Haufen braune, frisch aufgewühlte Erde. „Wohnt da ein Maulwurf drin?“, fragt er, denn dem Maulwurf nist er in Bilderbüchern und Geschichten schon öfter begegnet. Manche hatten Namen, Manfred hieß einer. Aber gesehen hatte Tom einen Maulwurf noch nie. Deswegen macht er sich auf die Suche: Zuerst wühlt er sich mit den Händen in den Erdhügel hinein, dann mit einer Schaufel. Tiefer und tiefer gräbt er sich in den Erdhügel, schiebt die Erde zur Seite und siehe da – es ist ein Loch zu sehen. Ein Loch, das noch tiefer in die Erde führt, der Eingang zum Maulwurfsgang. Nun sind die Hand, der Arm, doch die besseren Graber.
Jule hockt daneben und sieht interessiert zu: „Und wenn der Maulwurf dich jetzt beißt?“ Es entwickelt sich ein Gespräch über den Maulwurf, der ja unter der Erde lebt: Er ist blind? Aber wie kann er sehen, wo er sich hingräbt? Viele Fragen werden gestellt, auf Antworten kommen die Kinder von selbst. Oder auch durch die Erklärungen der pädagogischen Fachkraft, die das Tun der Kinder aufmerksam begleitet und sie in ihren Fragen bestärkt. Der Maulwurf wohnt unter der Wiese, wir erkennen seine Wohnung an den vielen Erdhügeln, die er nach oben schiebt. Unter der Erde hat er ein großes Labyrinth mit vielen Tunneln gegraben. Er ist immer bei der Arbeit, gräbt mit seinen Schaufelpfoten neue Gänge und legt dabei Vorratskammern an, auch ein weiches Nest aus Gräsern und Heu, für die Maulwurfbabys.

In der Natur werden Sinne und Körper trainiert

Zwar sind die meisten Menschen von Geburt an mit einer durchschnittlich guten Fähigkeit zur Sinneswahrnehmung ausgestattet, diese Grundfähigkeit muss jedoch vor allem in der Kindheit durch beständige Anpassung an Situationen, Dinge und Anforderungen geübt werden. Je vielfältiger sensorische und motorische Funktionen geübt werden, umso sicherer werden Kinder in ihren Bewegungen und umso besser gelingt es ihnen, die täglichen Herausforderungen an ihre Sinne und an ihre Fein- und Grobmotorik zu bewältigen. Eine naturnahe Gestaltung des Außengeländes im Kindergarten, ein Ausflug in den Wald, Spiel- und Bewegungsaktivitäten auf einer unebenen Wiese, Hügel hinaufsteigen  und wieder herunterrennen – diese Situationen fordern die Kinder heraus. Ihr Gleichgewichtssystem und ihre Bewegungskoordination erhalte Gelegenheiten zum Training – was zwar meist mit Anstrengung und körperlicher Verausgabung verbunden ist, den Kindern aber gleichzeitig auch großen Spaß bereitet.

Dreck? Eine Schule der Sinne!

Noch haben Kinder eine Antenne für alles, was ihre elementaren Sinneswahrnehmungen betrifft, was die Basis ihres Lebens und Lernens bildet. Eine Schule der Sinne kann überall entstehen – auch und vor allem in der Natur! Dort können der Welt des passiven Konsums Gelegenheiten für erlebnisreiches, aktives Tun entgegengesetzt werden. Wiesen, Wald, Feld und Garten können zu Lern- und Erlebnisorten werden. Alle Sinne werden geschärft, der Körper wird herausgefordert und seine Kräfte werden gebraucht wenn es darum geht, auf rutschigem Untergrund das Gleichgewicht zu halten oder einen steilen Hügel zu erklimmen.
Hier sind authentische Erfahrungen möglich, in denen sich das Kind in hohem Maße als Selbstverursacher erlebt. Und der Dreck? Mit einem Wasserschlauch lassen sich die äußeren Spuren des Spielens mit Erde und Matsch schnell abspülen. Die inneren Spuren aber sind nachhaltig, sie bleiben auch noch über Jahre hinweg, bis ins Erwachsenenalter, bestehen.

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