15.07.2020
Redaktion
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Auf dem Weg zwischen Notbetreuung und Alltag

Kitaalltag – zumindest irgendwie. Die Notbetreuung vom Beginn der Corona-Krise ist vorerst vorbei – der Alltag noch nicht wieder eingekehrt. Zeit, um die vergangenen Monate zu reflektieren und sich den anstehenden Problemen zu widmen. Haben die Kinder von der Notbetreuung profitiert? Müssen die Kleinsten jetzt wieder eingewöhnt werden? Wir haben bei einer Krippen-Erzieherin nachgefragt.

Interview: Lisa Martin, TPS-Redaktion
Bild: ©kate_sept2004/GettyImages

Frau Welsch, Sie sind stellvertretende Leiterin einer Kita für ein- bis dreijährige Kinder in Baden-Württemberg. Wie sah die Notbetreuung in Ihrer Einrichtung zu Beginn der Corona-Krise aus?

Daphne Welsch: Wie wir uns am Tag vor der Schließung der Kitas von den Kindern und ihren Eltern verabschiedet haben, werde ich nicht so schnell vergessen. Wir wussten nicht, ob und in welcher Verfassung wir uns wiedertreffen werden. Ich habe die Kinder angesehen und mich dabei gefragt, wie sie wohl nach den voraussichtlichen fünf Wochen wiederkommen werden. Das war ein emotionaler Moment. Deshalb kam mit den ersten zwei Kindern in der Notbetreuung ein kleines Stück Normalität zurück. Wir haben fünf Wochen lang nur diese beiden Kinder betreut. Ein zweijähriges Mädchen und einen anderthalbjährigen Jungen –mein Bezugskind. Beide Kinder hatten von Anbeginn ein Anrecht auf Notbetreuung, da ihre Eltern Ärzte beziehungsweise Angestellte der Stadtverwaltung sind.

Können Sie uns etwas darüber erzählen, wie die Arbeitsteilung zwischen Ihnen und Ihren Kolleginnen in dieser Zeit ausgesehen hat?

Aus pädagogischer Perspektive war völlig klar, dass die Kinder von ihren Bezugserzieherinnen zu betreuen sind. Meine Kollegin in der Gruppe und ich, teilten uns die Betreuungszeit in der Kita auf. Wir betreuten mein Bezugskind jeweils zwei beziehungsweise drei Tage. Auf diese Weise blieb auch die Bindung zur zweiten Pädagogin stabil, eine wichtige Absicherung für den Krankheitsfall. Da die Kinder in der Notbetreuung ansonsten zwei verschiedenen Gruppen angehören, war jeweils eine Erzieherin mit einem Kind in der Gruppe. Das war und ist auch heute noch aus hygienischer Perspektive geboten. Sollte eine der vier Personen sich infizieren, wären zumindest die andere Pädagogin und das andere Kind nicht gefährdet gewesen. Das gesamte restliche pädagogische Personal sprach sich so ab, dass nie zwei Personen vor Ort im gleichen Raum arbeiteten. Die anderen waren im Home Office tätig. So konnten wir das Abstandsgebot einhalten.

Im Haus verrichteten wir in dieser Zeit vor allem werterhaltende Pflegearbeiten an Spielmaterial, Mobiliar, Bewegungselementen und im Garten. Auch den Sommerputz haben wir vorgezogen. Im Home Office haben wir uns vor allem mit der Dokumentation, der Vorbereitung von Entwicklungsgesprächen sowie mit Fachliteratur und Online-Weiterbildungen beschäftigt. Dazu entwickelten wir unglaublich kreative Ideen zur eigenen Herstellung von Spielmaterial oder anderen Dingen des Gruppenalltags. So könnten wir jetzt eine Ausstellung zur "Wertschöpfung durch handwerkliche Arbeit" zeigen. Diese Arbeiten und der mediale Austausch in der Zeit des Kontaktverbots hat oft die Stimmung gehoben.

Nur ein Kind zu betreuen ist ziemlich weit von dem entfernt, was man ansonsten als Erzieherin in der Kita gewohnt ist. Wie haben Sie diese ungewöhnliche Situation erlebt?

Zunächst fand ich es schön, dass ich arbeiten gehen konnte und es war selbstverständlich für mich, dass ich mein Bezugskind betreue. In dieser Zeit habe ich mich zurück versetzt gefühlt in die ersten Jahre mit meiner eigenen Tochter. Da uns kein Mittagessen mehr geliefert wurde, habe ich morgens zuerst gekocht. Dabei hat das Kind zugeschaut, und auf seine Weise mit Töpfen, Schüsseln und Löffeln gespielt beziehungsweise nachgeahmt, was nun neue Realität im Tagesablauf geworden war. Ansonsten haben wir unseren Rhythmus weitestgehend beibehalten. Es war mir wichtig, dass der Junge sich im Tagesablauf wiederfinden kann und sich dadurch zeitlich zurechtfindet. So konnte er sich am lange zuvor erlebten Rhythmus orientieren. Dabei war ein kleiner „Morgenkreis" mit Singen und Bewegung genauso haltgebend wie das Händewaschen, Frühstücken und in den Garten gehen. Dort das andere Kind zu treffen, war manches Mal sogar heißersehnt.

Haben Sie während der Zeit Veränderungen an Ihrem Bezugskind wahrgenommen?

Ein Anderthalbjähriger ist ja noch sehr klein. Ein so kleines Kind spielt überwiegend alleine und ahmt stark das nach, was um es herum geschieht. So hatte er zuvor neugierig zugeschaut, was die anderen machen und diese Spiele dann aufgegriffen. Nach einer anfänglichen Phase des "Suchens", die sich wie Mäandern zwischen Spielmaterial oder der Aufforderung zum Mitspielen an mich äußern konnte, hat er schließlich seine eigenen Ideen entwickelt. Er hat begonnen, selbst die Initiative zu ergreifen. Weil er wusste, was als nächstes im Tagesablauf kommt, hat er dies mehr und mehr vorweggenommen. Beispielsweise ist er nach dem Morgenkreis plötzlich von allein zum Händewaschen gelaufen. Ich habe an ihm einen großen Entwicklungsschritt beobachten können. ihm hat diese Zeit sehr gut getan.

Wie war es für Ihr Bezugskind und Sie, dass plötzlich keine anderen Kinder mehr in der Krippe waren?

Am Anfang war es für mich gewöhnungsbedürftig. Ob ihm tatsächlich die anderen Kinder gefehlt haben, wage ich zu bezweifeln. Wir waren beide sehr beschäftigt, wir hatten uns, und uns ging es gut. Vielleicht hat ihm anfänglich der Impuls anderer Kinder gefehlt. Aber aus diesem Mangel heraus hat er damit begonnen, selbst aktiv zu werden. Außerdem hatte er in der Notbetreuung ungestört die Ruhe und Zeit, sich wirklich in sein Spiel zu vertiefen. In einer Gruppe von sieben gleichaltrigen Kindern wird das Spiel jedes Einzelnen oft unterbrochen. Da lenken Geräusche und schnelle Bewegungen, Gespräche der Pädagoginnen mit anderen Kindern, der Streit zweier oder die Not eines anderen Kindes schnell ab. Es gehört zu unserem Alltag und unserer Aufgabe, das versunkene Spiel der Kinder, den Flow, so
oft es geht zu ermöglichen und zu schützen.

Jetzt hat sich die Situation etwas verändert und es kommen immer mehr Kinder wieder in die Krippe. Stoßen Ihr Team und Sie dabei auf neue Probleme?

Nach zehn Wochen kamen weitere Kinder in die Notbetreuung, unter anderem auch ein zweites Kind in unsere Gruppe. Dass nicht jedes Kind nach so langer Zeit wieder freudig über die Schwelle hüpft, hatten wir erwartet. Dass manche Kinder wirklich mit Eingewöhnungsproblemen kämpfen würden, hat uns unser zweites Kind deutlich gemacht. Wie langanhaltend und vor allem wie anders das Leben in der strengen Corona-Zeit für die Kinder und ihre Familien wirklich war, haben wir auf diese Weise erst gänzlich begriffen. Wochenlang nur in der Kernfamilie und aus dem sozialen Außenleben zurückgezogen gelebt zu haben, hat ganz andere Auswirkungen bei kleinen Kindern als bei Erwachsenen, die ständig über die Medien über den "Tellerrand" blicken konnten.

So brauchte das eine oder andere Kind mehr als zwei Tage, um sich wieder an die Krippe zu gewöhnen. Besonders heikel war die Situation zu diesem Zeitpunkt, weil die Eltern sofort wieder arbeiten mussten.Das war eine bittere Erfahrung für uns. Daraufhin haben wir alle zu betreuenden Kinder zu Schnuppertagen eingeladen. Das heißt, dass sie zuerst nur zum Frühstück und Spielen kamen. Je nach Verlauf des ersten Tages erweiterten wir dann die Betreuung. In der Zeit baten wir die Eltern, abrufbar zu sein. Erst wenn das Kind tatsächlich wieder bei uns schläft, ist das ein Zeichen dafür, dass es wieder richtig bei uns angekommen ist. Das Wohl des Kindes steht im Mittelpunkt.

Wie sieht die reduzierte Normalbetreuung in Ihrem Haus momentan aus?

Gerade sind 15 Kinder in unserer Einrichtung und es gilt die Vorschrift, dass maximal fünf Kinder pro Gruppe betreut werden dürfen. Durch die Gefährdungslage vor allem für und durch Erwachsene achten wir momentan darauf, dass nicht mehr als zwei Pädagoginnen im Gruppenraum arbeiten. Das hat unter Umständen Folgen für die Anwesenheit von Auszubildenden, die ihre Erfahrungen in der Praxis ungeachtet der Umstände machen müssen. Mit fünf Kindern ist in unserer Gruppe aber fast schon wieder normaler Betrieb.

Von einem nahezu normalen Betrieb können viele Kitas gerade wahrscheinlich nur träumen. Gibt es für sie da einen Unterschied zwischen Krippen und Kitas?

Zwischen dem Alltag in Kitas und Kindergärten besteht in dieser Übergangszeit ein großer Unterschied. In Krippen arbeiten wir in der Regel in geschlossenen Gruppen, das ist ein Vorteil. Die Kinder begegnen sich wenn überhaupt nur im Garten. Kindergärten dagegen haben zumindest jetzt den Vorteil, dass weniger pädagogisches Personal vor Ort arbeitet. Das heißt, die Abstandsregelung für Erwachsene ist viel leichter einzuhalten. Ich habe jedoch große Hochachtung vor den Pädagoginnen und Pädagogen in den Kindergärten, die innerhalb kurzer Zeit Konzepte zur Öffnung erarbeitet haben. Sie versuchen gerade mit viel Kreativität und wenig pädagogischem Personal für sehr viele Kinder einen Alltag in bestehenden
Räumlichkeiten und benötigtem zeitlichen Umfang möglich zu machen.

Trotz der schrittweisen Öffnungen gibt es immer noch viele Vorschriften, die es zu beachten gilt. Wie reagieren die Kinder darauf?

Das was uns alle schützt, ist die Mund-und Nasenschutz-Pflicht. Diese Vorschrift können wir in der Betreuung der Krippenkinder nicht realisieren. Das hat die Arbeitsgemeinschaft Kita im April in ihrer "Empfehlung für einen stufenweisen Prozess zur Öffnung der Kindertagesbetreuungsangebote von der Notbetreuung hin zum Regelbetrieb im Kontext der Corona-Pandemie" deutlich gemacht. Zu unserer Arbeit gehört körperliche Nähe zu den Kindern. Mit Abstand und Mundschutz können wir nicht trösten, beim Essen behilflich sein, ein Buch vorlesen oder eine Wickelsituation für eine eins zu eins Begegnung gestalten. Außerdem macht die Mimik einen großen Anteil unserer Kommunikation aus. Das Beobachten unserer Lippenbewegungen beim Sprechen ist unerlässlich für die Sprachentwicklung der Kinder.

Deshalb tragen nur die Eltern beim Bringen und Abholen einen Mund-Nasenschutz sowie andere Personen, die die Kita betreten. Besonders zu Beginn der gestaffelten Wiedereröffnung mussten wir kurzzeitig von der Vorschrift abweichen. Zu dieser Zeit waren die Kinder noch nicht gewohnt, ihre Eltern mit Mund-Nasenschutz zu sehen. Bei der Übergabe in der sensiblen Zeit nach dem Mittagschlaf haben die Eltern die Maske kurzzeitig aus dem Gesicht genommen, um das Kind freudig entgegenzunehmen. Kinder müssen einfach sehen, dass die Eltern sie anstrahlen. Bei zu strikter Einhaltung der Regelung kam es vor, dass Kinder ihre Eltern nicht erkannten und nicht vom Arm der Pädagogin zur Mutter wechseln wollten. Mittlerweile haben sich die Kinder an den Mundschutz gewöhnt.

Daphne Welsch ist Kindheitspädagogin (B.A.) in der Kita Sonnenschein in Marbach am Neckar, einer städtischen Krippe mit sechs Gruppen.

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