27.09.2019
RÜDIGER-FELIX LORENZFoto: © Superingo – Fotolia.de
Redaktion

Salutogenese – Das Leben annehmen lernen

Welche Schutzfaktoren fördern bereits in der frühen Entwicklung die Lebenskompetenz von Kindern zur Erhaltung einer stabilen Gesundheit? Was brauchen Kinder, damit sie gar nicht erst krank werden? Und was hilft, Krankheiten gut zu bewältigen? Zu diesen Fragen gibt uns der amerikanisch-israelische Gesundheitssoziologe Aaron Antonovsky Antworten. Von ihm stammt der Begriff der Salutogenese.

Text: RÜDIGER-FELIX LORENZ
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Erinnern Sie sich? Wie war das, krank mit Wadenwickeln im Bett zu liegen, umsorgt von Mama, und den Kamillentee mit einem kleinen Keks gereicht zu bekommen? Sie muss gar nicht lange an der Bettkante sitzen, es genügt, wenn sie hin und wieder einmal durch die Tür hereinblickt. Und dann sind da noch die Zuversicht und die Freude darauf, dass Papa ja sein Versprechen einlösen wird und am Abend eine schöne Geschichte vorliest. Das fühlt sich doch trotz dieser Erkältung sehr wohlig im warmen Bett an, nicht wahr? Viele unterstützende und förderliche Wirkkräfte in und um uns herum entfalten auf diese Weise eine Sicherheit gebende Erfahrung
dafür, nicht allein oder gar hilflos der Krankheit ausgeliefert zu sein.

Prägende Lebenserfahrungen

Aaron Antonovsky (1923 – 1994), ein amerikanisch- israelischer Gesundheitssoziologe, bietet mit seiner Forschung eine zukunftsweisende Antwort auf die Frage an, wie gesunde Kräfte und Potenziale in uns wirksam werden können. Die ersten drei Lebensjahre der frühkindlichen Entwicklung zeigen, dass die Grundlagen in der Bindung an feinfühlige Bezugspersonen für eine gute physische und psychische Gesundheit zuträglich im Leben aufgebaut werden können, da die frühen Erfahrungen die Architektur des sich entwickelnden Gehirns prägen. Antonovsky spricht von „Mustern von Lebenserfahrungen“, die ihren Niederschlag als Ressourcen, den „generalisierten Widerstandsressourcen“, finden und prägend für das spätere Leben Halt geben.

Ressourcen stellen in diesem Sinne die Gesamtheit aller zur Verfügung stehenden gesundheitsförderlichen Aspekte dar, auf die für das spätere Leben zurückgegriffen werden kann, um die Bewältigung von Belastungen und Stress zu erleichtern.

In unserem Beispiel wirkt zunächst die Mutter, die zuverlässig (Erfahrung der Konsistenz) nach dem Rechten schaut und mit dem Wadenwickel das Fieber zu senken sucht (Erfahrung der Belastungsbalance), und dass am Ende beide Eltern die Bedürfnisse des Kindes berücksichtigen (Erfahrung der Partizipation). Es ist eine Periode höchster Plastizität, in der das Kind die entwicklungsförderlichen Reize aus der Umwelt zügig verarbeiten
und nachhaltig lernen kann. Für das Gelingen dieser Entwicklungsaufgaben bringt das Kind erstaunliche Fähigkeiten mit:
Neugier, Lernfreude und Selbstgestaltung in einer bestenfalls
stimulierenden Umgebung mit Menschen, auf die es sich zu verlassen
lohnt und die im günstigsten Fall feinfühlig auf die psychischen und physischen Bedürfnisse einzugehen in der Lage sind.

Selbstgestaltung und Sinnsuche

Es findet auf diese Weise eine gesunde Anpassung an das Leben statt, und mit dem kontinuierlichen Angebot dieser drei Erfahrungen (Konsistenz, Belastungsbalance und Partizipation) wird nach Antonovsky derGrundstein für eine noch bedeutsamere Erfahrung in der menschlichen Gemeinschaft gelegt. Die Kinder wollen schließlich ihre Alltagserfahrungen als verständlich und überschaubar wahrnehmen, sie probieren darüber
hinaus mit oft sehr großer Anstrengung und Ausdauer aus, wie sie Anforderungen meistern können, und sie wollen mit ihren Bemühungen gesehen und wertgeschätzt werden, ja eine Bedeutung für ihre Mitwelt erlangen.

Wenn Kinder im Kontakt mit ihren Bezugspersonen (z. B. Eltern, Erzieherinnen, Tagesmütter und -väter) diese Erfahrungen stabilisieren können, dann können sie ein sehr durchtragendes Gefühl entwickeln, das sie ihr Leben lang bei der Bewältigung von Anforderungen und ganz besonders im Umgang mit Stresserfahrungen unterstützen kann.
Antonovsky bezeichnet dieses Gefühl als Kohärenzgefühl. Es ist ein Gefühl, das uns Menschen mit seinen drei Komponenten der Verstehbarkeit, der Handhabbarkeit und der Bedeutsamkeit mit Zuversicht ausstattet und befähigt, das Leben in einem sinnstiftenden Zusammenhang zu sehen, das nicht einem unbeeinflussbaren Schicksal unterworfen ist.

Vor allem spielt in diesem frühen Lebensabschnitt die feinfühlige Abstimmung zwischen Betreuungspersonen wie Kindertagespflegepersonen und Kindern eine bedeutende Rolle, weil Kinder bereits in diesem Alter die Gestaltung ihrer Umwelt mit fortschreitender Entwicklung mehr und mehr selbst zu übernehmen, zu beeinflussen und zu kontrollieren suchen. Es ist eine Zeit, in der Kinder ganz versunken im Spiel ihre Fähigkeiten entdecken, eine Zeit, in der Erwachsene allein bei der Beobachtung ihre Freude daran haben können.

Die zentrale Frage

Mit dieser im sozialen Miteinander kooperativ gestalteten und selbst gefundenen Erfahrung lernen die Kinder ihr gegenständliches Umfeld mit ihrer Motorik und ihren Sinnen kennen und verstehen, indem sie dabei körperliches und psychisches Wohlbefinden empfinden. Was kann sinnstiftender und verständlicher, ja gesundheitsförderlicher sein? Diese Frage stellt Antonovsky in den Mittelpunkt seines Lebenswerkes. Er wendet sich ab von der Annahme, dass nur allein Krankheitsrisiken entgegenzuwirken sei oder gar nur die Defizite in den Blick genommen und beseitigt werden müssten (siehe auch Pathogenese, griech. für pathos = Leiden/Krankheit, genese = Entstehung).

Antonovsky fragt beharrlich danach, was Menschen trotz vielfacher Risiken und Gefährdungen gesund erhält. Es braucht aus Antonovskys Sicht eine den Fokus auf krankmachende und defizitäre Faktoren ergänzende Sicht darauf, was der Ursprung der Gesundheit ist, wie Gesundheit entsteht und unter welchen Bedingungen sie sich entwickeln kann. Er prägte dafür den Begriff der Salutogenese (salus (lat.) für Wohlbefinden/Gesundheit; Salutogenese als Ursprung oder Entwicklung der Gesundheit), um für die Gesundheitswissenschaften zu verdeutlichen, wie wichtig es ist, sich den seit der Antike vernachlässigten Fragen zu widmen, die sich – neben den zweifellos bedeutenden Errungenschaften des medizinischen Krankheitsmodells – den gesunden Potenzialen des Menschen zuwenden.

Die Regulation der Emotionen

Zuvor war schon mehrfach die Rede von Stresserfahrungen im Leben, denen wir alle, bereits auch Kleinkinder, ausgesetzt sind. Im Umgang mit unangenehmen Erfahrungen muss das Kind erst die Fähigkeit erlernen, belastende Emotionen zu steuern, Impulse zu unterdrücken und sich in sozial akzeptabler Art und Weise zu verhalten. Diese Thematik der Emotionsregulation, die Antonovsky abhandelt, spielt in der Kindertagespflege eine bedeutende Rolle, weil die Bezugspersonen an der frühen Emotionsregulation im Kontakt mit dem Kind vor allem im vorsprachlichen Austausch maßgeblich mitwirken.

Eltern entschlüsseln die Signale des Kindes – als evolutionär gesteuertes Programm und aufgrund der eigenen Kindheitserfahrungen mitgegeben – intuitiv, während für Tagespflegepersonen und Erzieherinnen der Informationsaustausch mit den Eltern über die emotionalen Entwicklungsschritte und zuweilen auch die unterschiedlichen Vorstellungen in der Erziehung einen herausragenden Stellenwert einnehmen muss. Qualifizierte Fortbildungen können helfen, die im Kind angelegte Vielfalt angemessen zu begleiten, um den individuellen Bedürfnissen und Fähigkeiten des Kindes gerecht zu werden.

Kinder, deren Bezugspersonen beschützend und kultursensibel – heute besonders in Anbetracht sozialer Verwundbarkeit aufgrund von Flucht und Migration – auf ihre emotionalen Bedürfnisse und Interessen eingehen können, schöpfen daraus die Kraft für Kreativität, die sie doch für ihr ganzes Leben so dringend brauchen.

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