02.07.2019
Silke Allmann
Grafissimo // GettyImages

Maria Montessori – Eine Kämpferin für die Sache des Kindes

Wer sich mit Maria Montessori und ihrem pädagogischen Ansatz auseinandersetzt, wird sehr rasch erkennen, dass die Reformpädagogin völlig zu Recht heute noch eine große Wirkkraft besitzt. Ihre Grundge­ danken – vor über hundert Jahren formuliert – haben ihre Aktualität in keiner Weise eingebüßt.

Woher hat sie ihre Erkenntnisse gewonnen? Nun, sie war eine ausgezeichnete Beobachterin. Sie hat genau und detailreich hingesehen und gehandelt. Ihr Denken und Handeln haben dazu geführt, dass sie eine interna­ tional anerkannte Pädagogik entwickelt hat, die sich weit vor der Zeit mit Themen der Inklusion, Nachhaltig­ keit, Heterogenität und Diversität grundständig beschäf­ tigt.

Eine Frau mit starkem Willen

Am 31. August 1870 als einziges Kind von Alessandro und Renilde Montessori (geb. Stoppani) in Chiaravalle bei Ancona/Italien geboren, entwickelte sie schon sehr früh einen starken Willen. Zum einen war für die wohl behütete Tochter aus gutem Hause ihre Schulwahl, eine naturwissenschaftlich­technische Sekundarschule un­ üblich, zum anderen war auch die Wahl ihres Studien­ faches (Medizin) überaus ungewöhnlich. Wenn über­ haupt, dann wurden junge Frauen, die sich damals für eine Berufstätigkeit entschieden, Lehrerinnen und dann zumeist Volksschullehrerinnen. Maria Montessori wur­ de vor allem von ihrer Mutter unterstützt. Sie war es, die ihrer Tochter den Rücken stärkte, um sich gegen die Vor­ stellungen ihres Vaters durchzusetzen. Dieses Durchset­ zungsvermögen hat sie Zeit ihres Lebens nicht verloren: Sie kämpfte zuallererst für die Belange der Kinder und für eine Reformierung des Bildungssystems schlechthin. Dafür nahm sie auch noch in hohem Alter von über achtzig Jahren anstrengende Vortragsreisen auf sich und schreckte selbst vor gefährlichen Reiserouten zu Beginn des Zweiten Weltkrieges (Oktober 1939 nach Indien) nicht zurück.

Ihr beruflicher Werdegang kann in drei großen En wicklungslinien nachvollzogen werden:

Drei Entwicklungslinien in Montessoris Werdegang

1. Von der Medizin zur Pädagogik

Nach ihrem Medizinstudium (1892−1896) und ihrer Promotion am 10. Juli 1896 als eine der ersten weiblichen Ärzte Europas begann sie ihre Tätigkeit als Assistenzärztin in der Chirurgie und folgend an der Psychiatrischen Klinik der Universität Rom. Dort beobachtete sie eine Gruppe von behinderten Kindern, die in einem geschlossenen Raum mit auf dem Boden liegenden Brotkrumen

„spielten“. Bei genauerem Hinsehen bemerkte Montessori, dass es sich hierbei keineswegs lediglich um eine Spielerei handelte, sondern dass die Kinder aus großem Interesse an den Brotstücken diese genauer betrachteten und zu ordnen begannen. Aus dieser Beobachtung her­ aus überlegte Maria Montessori: Wenn geistig behinderte Kinder einen solchen, bisher unerkannten Akt vollziehen können, wozu sind dann erst nicht geistig beeinträchtigte Kinder in der Lage?

Dazu muss man wissen: Das, was einem (kleinen) Kind damals zugetraut wurde, war nicht viel. Das Kind musste körperlich versorgt, gut aufgehoben und durch den Erwachsenen geformt werden. Darauf war auch das gesamte Bildungssystem abgestimmt, nicht nur das italienische, sondern auch das in vielen anderen Ländern. Parallel zu ihren zahlreichen Beobachtungen schlug sich folgender Gedanke in ihr Bahn: Sie vermutete, dass nicht nur die gesellschaftlichen Verhältnisse für das Schicksal der Kinder (nämlich untätig und passiv sein zu müssen) verantwortlich seien, sondern jeder einzelne Erwachse­ ne aktiv dazu beitrage.

Ihr Beobachtungsfeld erweiterte sich immer mehr durch die Möglichkeit, als Dozentin am Ausbildungsinstitut für Lehrerinnen in Rom (1899) zu den Themen Hygiene und Anthropologie zu lehren und im Weiteren ein medizinisch­pädagogisches Institut zu leiten (ab 1900). Und genau hier entwickelte sie ihre Methode zur systematischen Unterrichtung geistig behinderter Kinder. Montessoris Überlegungen waren für damalige Verhältnisse so ungewöhnlich und fundierten auf den medizinisch­heilpädagogischen Schriften der bekannten Heilpädagogen Jean Itard1 (1774–1831) und seinem Schüler Edouard Séguin (1812–1880), dass sie sich in pädagogischen Zusammenhängen immer mehr einen Namen machte. Im Jahr 1902 begann sie, sich intensiver mit der Pädagogik vor einem wissenschaftlichen Hintergrund auseinanderzusetzen und so studierte sie Pädagogik, Experimentalpsychologie und Anthropologie. Überhaupt scheint die Zeit von 1896 bis 1906 für einen grundlegenden berufsbiografischen Richtungswechsel die entscheidende gewesen zu sein.

2.  Das Casa dei Bambini und Montessoris systematische Entwicklungspädagogik

Zwar erst im Jahr 1909 erschienen, aber bereits Jahre zu­ vor aus eigenen Beobachtungen heraus entwickelt und konzeptioniert, legte Maria Montessori ihre theoretischen Überlegungen zum Wesen des Kindes schlecht­ hin in folgendem international anerkannten Werk dar: Il Metodo della Pedagogia Scientifica applicato all’educazio- ne infantile nelle Case dei Bambini (Die Methode der wissenschaftlichen Pädagogik, angewandt in der Erziehung des Kindes in der Casa dei Bambini). Sie hatte sich bis dahin intensiv mit zahlreichen Theorien und Denkan­sätzen beschäftigt, u. a. mit der psychosexuellen Entwicklungstheorie von S. Freud. Außerdem hatte sie systematisch eine Methode ausgearbeitet, wie nach ihrer Einsicht mit dem – nicht behinderten, aber devianten Kind 2 – gearbeitet werden müsse, damit es sich zu einer mündigen, verantwortungsvollen und weltzugewandten Persönlichkeit entwickeln kann.

Ein entsprechendes Beobachtungs­ und Handlungsfeld eröffnete sich ihr am 6. Januar 1907, als das später berühmte Casa dei Bambini (Kinderhaus) im römischen Armenviertel San Lorenzo eröffnet wurde und sie mit dessen Leitung betraut wurde. Wie kam es dazu? Am Pädagogischen Institut der Universität Rom sowie am Ausbildungsinstitut für Lehrerinnen hatte sie Vorlesungen über Anthropologie und Biologie gehalten. In diesem Zusammenhang wurde man in den entsprechenden Kreisen auf sie aufmerksam und kam auf sie zu, um sie mit dieser schwierigen Aufgabe zu beauftragen. Warum war die Leitung eines Kinderhauses keine leichte Aufgabe? Stellte es für die pädagogisch versierte Medizinerin nicht ein ideales Arbeitsfeld dar, in dem sie ihre grundlegenden Überlegungen zum Wesen des Kindes prüfen und  ausbauen konnte?

Dazu ist es wichtig, Folgendes zu den damaligen Verhältnissen zu wissen: Seit 1870 war Rom Hauptstadt des geeinten Italiens und es begann, wie in allen auf­ strebenden Metropolen der Welt, ein Bauboom. Auch in dieser Zeit nicht ungewöhnlich erfuhren die Bewohner schmerzlich wilde Boden­ und Mietspekulationen, so­ dass angefangene Bauprojekte nicht fertiggestellt wer­ den konnten und als Ruinen Platz für Kriminalität und Prostitution schufen. San Lorenzo war von dieser Entwicklung besonders stark betroffen. Ein Stadterneuerungskonzept sollte Abhilfe schaffen. Bauten wurden notdürftig saniert und sozial schwachen Familien als Wohnung zugewiesen. Da die Frauen aus sozial schwachen Familien ebenso wie ihre Männer zur Absicherung der Existenz arbeiten gehen sollten, wusste man nicht, wohin mit den noch nicht schulfähigen Kindern. So kam die Idee auf, eine Betreuungseinrichtung in San Lorenzo zu schaffen, um die Kinder von der Straße zu holen und sie an einem solchen Ort davon abzuhalten, herumzustreunen und zu randalieren.

Zuerst wurde Maria Montessori von der Leitung der Sanierungsgesellschaft gefragt, ob sie eine Betreuung für diese Kinder im Kleinkindalter finden könne. Montessori sah darin aber eine Chance, ihre auf behinderte Kin­ der ausgerichtete Methode auf nicht behinderte Kinder zu übertragen und so übernahm sie kurzerhand selbst die Leitung des Kinderhauses. Dort konnte sie das kindliche Verhalten beobachten, ergründen und verstehen lernen. Sie erstellte einen systematischen Ansatz zur not­ wendigen Gestaltung einer – der kindlichen Entwicklung zuträglichen – Umgebung (vorbereitete Umgebung), basierend auf der Prüfung und Weiterentwicklung der für geistig behinderte Kinder entwickelten Sinnesmaterialien von Itard und Séguin. Das war die Geburt ihrer Entwicklungspädagogik!

Was stellte sie fest? Das einzelne Kind bringt viele Potenziale mit seiner Geburt bereits mit! Es muss jedoch eine Umgebung mit Materialien offeriert bekommen, die auf seine Bedürfnisse abgestimmt ist und die – aus einem Prinzip wahrhaft wirklicher Freiheit heraus – ihm die Chance gibt, sich frei zu entfalten. Ein revolutionärer Gedanke, den die Besucher des Kinderhauses in San Lorenzo in Staunen und Bewunderung für die kindliche Kraft versetzten und nicht selten mit offenen Augen und offenem Mund das Kinderhaus verlassen ließen, wenn sie den über 50 zwei­ bis sechsjährigen Kindern bei ihren Tätigkeiten zugesehen hatten.

Jetzt waren Maria Montessori Tür und Tor geöffnet, um ihre Methode zu verbreiten – zunächst in  Italien, dann, beginnend mit der italienischen Schweiz, weiter über die Landesgrenzen hinaus. Sie bereiste unermüd­lich alle Länder, quer über den gesamten Globus, um ihre Erkenntnisse über das Kind und seine geistigen Kräfte auf ihre eigene Art und Weise verständlich zu machen. Ein  überaus  erfolgreiches  Unterfangen,  denn es gibt mittlerweile auf jedem Kontinent zahlreiche Kinderhäuser und Schulen (mehr als 40.000!), die nach der Montessori­Pädagogik  arbeiten.

3. Montessoris pädagogisches und gesellschaftliches Wirken

Montessoris pädagogisches Wirken vollzog sich  also, wie beschrieben, aus der Arbeit mit behinderten Kindern heraus. Von hier aus wendet sie sich Fragen zu, die alle Kinder – auch die nicht behinderten – betreffen. So frag­ te sie sich beispielsweise:

  • Welche Rolle spielt das Ordnen sinnlich wahrgenommener Außenreize für die innere Ordnung des menschlichen Geistes?
  • Welche Bedeutung haben Ordnung und Struktur der Umgebung für die kindliche Entwicklung?
  • Welchen didaktischen Prinzipien müssen Materialien standhalten, die dem Kind in dieser Umgebung angeboten werden?
  • Welche Rolle nimmt der Lehrer ein?

Ihre Arbeit in den medizinischen Einrichtungen, ihre Vortragsarbeit sowie ihre Beobachtungen im Kinderhaus führten sie immer stetiger zu grundsätzlichen Überlegungen und Erkenntnissen. In praktischen Versuchen setzte sie diese dann um. So stellte sie in Anlehnung an Itard fest, dass die Isolierung des Trainings eines einzelnen Sinnes in einem Material eine ausschlaggebende Bedeutung für die Wirksamkeit einer Übung beim Kind hat. Des Weiteren erkannte sie – wieder in Anlehnung an Itard, aber auch an seinen Assistenten Séguin – dass ein Kind zuerst mit zwei grob zu unterscheidenden Sinneseindrücken konfrontiert werden sollte, bevor es zur Übung mit immer feiner werdenden Abstufungen und Unterschieden geführt werden müsse. Welch’ wichtige Prinzipien für die Entwicklung weiterer Arbeitsmaterialien für das Kind!

Es zeigt, dass Maria Montessori – und hier war sie ganz Naturwissenschaftlerin – genau und detailgetreu hinsah und somit einen analytischen Blick für die Handlungen des einzelnen Kindes hatte, den sie unablässig von je­ dem einforderte, der mit Kindern arbeitet.

 Im Casa dei Bambini konnte Maria Montessori ihre Methode auf nicht behinderte Kinder übertragen. Hier nahm ihre Entwicklungspädagogik ihren Ausgang.

 Ihr weltbekanntes pädagogisches Credo „Hilf mir, es selbst zu tun!“ 3 verweist auf Montessoris kämpferisches Engagement, das Kind von der Selbsttätigkeit über Selbstständigkeit zur Unabhängigkeit zu begleiten. Dazu braucht es aufmerksame, entwicklungspädagogisch gut ausgebildete und verstehende Pädagogen, die eine pä­ dagogische Grundhaltung des Respekts gegenüber der kindlichen Persönlichkeit und eine tiefe Einsicht in die Einzigartigkeit jedes einzelnen Kindes entwickelt haben. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass sich Maria Montessori für die Veränderung mensch­ licher Gesellschaften und deren Einstellungen gegen­ über dem Kind massiv und energisch engagierte. Das probate Mittel, um gesellschaftliche Bedingungen zu verändern und das Kind endlich in seiner Potenzialität zu erkennen, war für sie Erziehung, und zwar ohne Kompromisse eine Erziehung und Pädagogik vom Kinde aus 4. Damit war Montessoris Wirkungsfeld jedoch bei Weitem nicht erschöpft! Sie setzte sich vehement für eine neue Frauenrolle ein: die berufstätige Mutter. Ein für da­ malige Verhältnisse unerhörtes Anliegen! Dazu sprach sie bereits als junge Frau in den Jahren 1897–1899 auf Kongressen in Turin, Rom und London. Für sie war ein Zusammenhang zwischen der Rolle der neuen Frau und sozialreformerischen Bestrebungen unübersehbar.

Ihr Wirkungskreis weitete sich nach und nach aus, sodass sie nicht nur ihre Wohnorte in verschiedenen Ländern suchte 5, sondern sich selbst auch immer mehr als Kosmopolitin (Weltbürgerin) verstand.

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