04.08.2022
Barbara Angelè

Das Kind hat immer eine gute Absicht – Herausforderndes Verhalten von Kindern verstehen

Kleinkinder können Konflikte untereinander oft nur mit körperlich „aggressivem“ Verhalten austragen. Und sie können sich aus vielen Gründen herausfordernd verhalten. Entscheidend ist, die Motive zu erkennen – und durch das eigene Verhalten dafür zu sorgen, dass Konflikte möglichst wenig entstehen, nicht eskalieren und mit einem respektvollen Umgang mit den Kindern gelöst werden.

Eine Herausforderung im Alltag einer Kindertagespflegestelle sind Konflikte der Kinder untereinander. Sie äußern sich auch in „aggressivem“ Verhalten wie Hauen, Beißen, Schubsen, Kratzen, Haare-Ziehen. Auseinandersetzungen unter Kleinkindern werden überwiegend körperlich ausgetragen, das ist „normal“. Es fehlen zum einen die Worte und zum anderen sind die Kinder noch vor der „Ich“-Entwicklung Sie kennen ihre eigenen Gefühle noch nicht und haben noch keine oder erst wenig Impulskontrolle und Regulationsmöglichkeiten. Sich in einer Gruppe mit anderen Kindern sozial verhalten zu können ist eigentlich für sie eine Überforderung. Sie brauchen dafür den Erwachsenen als Assistenz, nicht als Moral-Instanz. Wie können Kindertagespflegepersonen körperlich ausgetragenen Konflikten unter Kindern begegnen – immer vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Kinder in ihrem Verhalten keine böse Absicht haben? Die folgenden Überlegungen sollen Ihnen helfen, die eigene Haltung und damit das eigene Handeln immer wieder neu zu überdenken und die jungen Kinder respektvoll und einfühlsam auch in konflikthaften Situationen zu begleiten und zu betreuen.

Ruhig bleiben

 Wer kennt so etwas nicht: – Rahel schubst mit beiden Händen Milan von sich weg. Milan erschrickt, weint und sucht seine Bezugsperson. – Paula spielt auf dem Boden mit einem Auto – da kommt Mira, reißt ihr das Fahrzeug aus der Hand und nimmt es zu sich. – Sandro spielt intensiv mit Bechern – da kommt David und beißt ihn in den Arm. Sandro schreit auf vor Schmerz. 

In solchen Situationen ist der Erwachsene intuitiv dazu verleitet, aus der persönlichen Betroffenheit heraus zu reagieren. Dabei brechen ungefiltert eigene Emotionen durch. Die Reaktion ist oft zu hastig und aufgeregt, vielleicht auch ärgerlich, man rennt hin, wird laut, ruft durch den ganzen Raum.

Hierdurch erschrecken alle Kinder und neue Konfliktsituationen können entstehen. Besonders für die Unter-Dreijährigen besteht in mehrfacher Hinsicht eine starke Abhängigkeit zur Bezugsperson. Der Erwachsene gibt die emotionale und physische Sicherheit. Es berührt die Kinder existenziell, in welchem Zustand sich der Erwachsene befindet. Ist der Erwachsene zum Beispiel aufgeregt oder angespannt, gestresst, genervt, gedanklich abwesend, so überträgt sich dies auf die Kinder.

Professionelles, angemessenes und feinfühliges Verhalten wäre eine ruhige, besonnene und reflektierte Reaktion. In meinen Seminaren zu diesem Thema verwende ich gerne das Bild eines Notarztes oder Ersthelfers am Einsatzort. Für ihn gilt: Nicht rennen! Der Retter und Helfer geht ruhig und besonnen zu Werke. Dieses Verhalten beruhigt alle Anwesenden. Für den Beginn ihres Einsatzes gilt für Notärzte: zurücktreten, still sein, sich sammeln – also cool bleiben, durchatmen, sich nicht emotional in eine Stresssituation verwickeln lassen.

Der israelische Körpertherapeut Moshe Feldenkrais sagt: „Wenn ich weiß, was ich tue, kann ich tun, was ich will.“

Ruhig agierende Erwachsene geben den jungen Kindern Sicherheit und helfen ihnen sich zu entspannen, besser in ihr Spiel zu finden und sich auch außerhalb ihres häuslichen Bereiches, fern von den Eltern, wohl zu fühlen.

Respektvoll mit Kindern umgehen

Erziehung ohne Bestrafung und Beschimpfung, ohne körperliche Übergriffigkeiten und ohne Beschämung sollte die Grundlage unseres Handelns sein. Ein Kind festhalten, ihm einfach etwas aus der Hand nehmen, es von etwas wegziehen, es am Kopf schieben, es einfach hochheben … solches Verhalten widerspricht einem respektvollen Umgang mit dem Kind. Auf solche Übergriffe zu verzichten stärkt die Beziehung vom Kind zum Erwachsenen und stärkt das Kind in seinem Selbstwert. In einer Kleinkindgruppe verlangt dieser respektvolle Umgang ein hohes Maß an Besonnenheit und Fähigkeit zur Selbstreflexion.

Die Konfliktmotive von Kleinkindern kennen

Um das Handeln der Kinder besser beurteilen zu können, muss sich der Erwachsene immer wieder vor Augen halten, dass hinter Konflikten unterschiedliche Motivationen stecken. Die Forschung spricht hier von sogenannten Konfliktmotiven, die stark vom Entwicklungsalter abhängen.

Die bekannte Verhaltensbiologin Gabriele Haug-Schnabel bespricht in ihrem Buch „Aggression bei Kindern“ das Ergebnis einer Untersuchung von Schweizer Entwicklungsforschern zum Thema „Verhalten von Kindern ab acht Monaten in einer Gruppensituation“. Folgende Konfliktmotive zeigte die Untersuchung:

  1. unterbrochene Handlung,
  2. Neugier und Exploration,
  3. 3erweckte Bedürfnisse,
  4. etwas bewirken wollen.

Ab dem dritten Lebensjahr kommen folgende Motive hinzu:

  1. der Wunsch nach Besitz,
  2. das Bedürfnis nach Aufstieg in der Hierarchie,
  3. Kontakt- und Erregungssuche.

Alle genannten Konfliktmotive bleiben ein Leben lang erhalten, es verändert sich nur der Umgang mit ihnen. Weitere mögliche Ursachen von aggressivem oder konflikthaftem Verhalten in einer Kleinstkindgruppe können sein:

  • Panik, Angst (etwa bei zu vielen Kinder im Raum),
  •  die Verteidigung der eigenen Person oder eines Gegenstandes (ein Kind kommt zu nahe, ein Kind will das Spielzeug aus der Hand reißen),
  • auf sich aufmerksam machen wollen,
  •  Abbau von zu hoher Körperspannung,
  • soziale Exploration,
  • Kontaktaufnahme,
  • Nachahmung,
  • Eifersucht. Konflikte sind etwas Natürliches zwischen Menschen.

 Zu viele Konflikte sind ein Stressfaktor für die Jüngsten. „Aggressives Verhalten“ kann auch Ausdruck dafür sein, dass es für einige Kinder zu unruhig und zu hektisch ist. Andere Kinder beginnen sich unwohl zu fühlen, weil es zu laut, zu eng ist. Vielleicht schubst die Rahel den Milan, weil er ihr zu nahe gekommen ist.

Verstehen, was das Kind mit seinem Verhalten sagen will

Kommt ein herausforderndes Verhalten öfter oder häufig vor, gilt es umso mehr, einerseits feinfühlig mit dem Kind in der konkreten Situation umzugehen und andererseits parallel nach den Ursachen zu forschen, um die wahren Bedürfnisse des Kindes zu erkennen, die Sprache des jungen Kindes zu verstehen.

Hilfreich ist auch zu erkennen, dass Bedingungen wie Abläufe im Alltag, Raumgestaltung, Materialangebot, Übergänge, fehlende Rückzugsmöglichkeiten im Raum das unerwünschte Verhalten bei einem Kind oder mehreren Kindern provozieren können.

Da sein

Einen starken Einfluss hat der betreuende Erwachsene durch seine Präsenz und sein Handeln im Raum. Darum sollte er nicht unnötig den gemeinsamen Raum verlassen. Die dabei oft entstehende „Kinder-Prozession“ sollte nicht als Liebesbeweis der Kleinen zum Erwachsenen fehlgedeutet werden, sondern ist vielmehr Ausdruck ihres bedrohten Sicherheitsbedürfnisses. Selbst wenn Erwachsene sich zu lange unterhalten, entstehen häufig Konflikte unter den Kindern. Impulse, um das friedliche Miteinander der Kinder zu stärken:

  • Präsent und aufmerksam sein.
  • Sich ruhig, eher langsam durch den Raum bewegen.
  •  Soweit möglich im Raum bleiben.
  • Einem Kind Rückmeldung geben, wenn es den Blickkontakt sucht, zum Beispiel: „Ich sehe, du hast dir den Eimer geholt“.
  • Orientierung geben durch das Beschreiben des eigenen Tuns: „Ich muss mal ganz nah an dir vorbei“, „Ich gehe in die Küche und hole ein Tuch“, „Ich putze dem Robin die Nase, dann komme ich zu dir“.
  • Sich die eigenen Gefühle und Urteile bewusst machen und reflektieren. Immer wieder durchatmen.

Haben Sie Geduld bei der Umsetzung! Die soziale Entwicklung braucht Zeit und Übung – so wie das Laufenlernen. Das Kind kann nicht immer unsere Erwartungen erfüllen oder Regeln einhalten. Es hilft dem jungen Kind, wenn der Erwachsene auch nach zehnmaligem Überschreiten der Regel so ruhig wie beim ersten Mal reagieren kann.

Gute Bedingungen schaffen

 Eine strukturierte, aber flexibel bleibende Gestaltung des Tagesablaufs und eine durchdachte Raumgestaltung erleichtern das Zusammensein der Kinder und können helfen, Konflikten vorzubeugen. Dazu gehören unter anderem – Sicherheit im Raum, zum Beispiel durch die Abgrenzung von Bereichen mit Spielgittern; – eine vorbereitete Umgebung, sodass sich die Kinder morgens willkommen geheißen fühlen; – den Tagesablauf an die individuellen Bedürfnisse der einzelnen Kinder anzupassen und nicht umgekehrt.

Gut für sich selbst sorgen

Es kann sein, dass Sie morgens um acht Uhr einen Konflikt in aller Ruhe begleiten, um elf Uhr haben Sie keine Nerven mehr – Sie reagieren selbst leicht aggressiv und machen den Kindern Vorhaltungen. Für Außenstehende sieht die Arbeit mit Unter- Dreijährigen oft beschaulich und einfach aus, denn die größte Anstrengung bei dieser Tätigkeit ist nicht sichtbar: Es ist eine permanente hohe Präsenz gefordert. Dies kostet viel Kraft und verlangt ständige Selbstwahrnehmung sowie Selbstreflexion. Die Kinder müssen sich vom Erwachsenen gesehen fühlen, um entspannt ins Spiel zu finden und mit anderen Kindern kooperieren zu können.

Um dies den ganzen Tag leisten zu können, müssen Kindertagespflegepersonen immer wieder gut für sich selbst sorgen: mal durchatmen, sich regelmäßig kurz hinsetzen, innehalten, in Ruhe zur Toilette gehen, vielleicht ein schönes Bild in eigener Augenhöhe an die Wand hängen, ein Bild, das beruhigt, und öfter mal am Tag darauf schauen. Für sich zu sorgen heißt auch, die eigenen Bedürfnisse in den Tagesablauf und die Raumplanung einzubeziehen, damit Sie auch in den vielen schwierigen, angespannten Situationen der Kinder die Ruhe bewahren und die Kinder auch nach fünf Stunden noch einfühlsam begleiten können. Haben Sie Geduld bei der Umsetzung, auch mit sich selbst. Literatur

Haug-Schnabel, G. (2009): Aggression bei Kindern. Praxiskompetenz für Erzieherinnen. Freiburg: Herder.


Methode: „Reframing“ der Absicht

Wir können nicht das Kind verändern, aber unser Verhalten überdenken und ändern sowie Abläufe oder Raumgestaltung an die Bedürfnisse jedes einzelnen Kindes anpassen. Dafür eignet sich die Methode des „Reframing“. Mit dieser Methode können Sie herausfinden, was hinter einem herausfordernden Verhalten eines Kindes stecken kann. Beschriften Sie sechs Karten mit folgendem Text:

  1. Karte: Verhalten
  2. Karte: Meine Reaktion
  3. Karte: Ergebnis davon
  4. Karte: Meine Erklärung für das Verhalten
  5. Karte: Welche nützliche Absicht könnte mit dem Verhalten verbunden sein?
  6. Karte: Wie kann ich mich in Zukunft verhalten?

Denken Sie an ein schwieriges Verhalten eines Kindes, mit dem Sie es in jüngster Zeit in einer konflikthaften Situation zu tun hatten. Seien Sie möglichst konkret.

  1. Welches Verhalten hat das Kind gezeigt? Beschreiben Sie genau, was das Kind getan hat, wie, wann und wo es das getan hat.
  2. Wie haben Sie darauf reagiert?
  3. Was war das Ergebnis davon?
  4. Was haben Sie bisher als Erklärung für das Verhalten angenommen?
  5. Neue Sichtweise: Welchen Sinn, welche nützliche Absicht könnte das Kind/Könnten die Kinder mit dem Verhalten verbunden haben? (z. B. Aufmerksamkeit erlangen, Spannung loswerden, in Kontakt treten …)
  6. Wenn Sie eine oder mehrere nützliche Absichten und Motive gefunden haben, wie können Sie sich in Zukunft verhalten? Was können Sie ändern? (z. B. wenn ein Kind mehr Aufmerksamkeit braucht: Wann kann ich dem Kind mehr Aufmerksamkeit geben, damit es „satt“ wird?)

Am besten machen Sie diese Übung zu zweit (auch online möglich). Legen Sie die Karten mit etwas Abstand auf dem Boden aus und stellen Sie sich dann vor die erste Karte. Sagen Sie laut alles, was Ihnen dazu einfällt, und gehen Sie dann weiter zur nächsten Karte. Die andere Person hat die Aufgabe, nur aufmerksam zuzuhören. Erst wenn Sie über die letzte Karte gesprochen haben, können Sie sich austauschen.

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