23.11.2022
Sibylle Fischer

Bitte keine Märchen

Der Tod ist nach wie vor ein großes Tabu in unserer Gesellschaft. Und wird durch das Verheimlichen und Verdrängen zu etwas Monströsem – besonders für Kinder. Da hilft nur eins: Wie müssen ihn beim Namen nennen.

Trauer – ein Gefühl, mit dem alle Menschen im Laufe ihres Lebens immer wieder konfrontiert werden. Menschen trauern um den Verlust von Beziehungen, um ein abgeschlossenes Lebenskapitel, um den Verlust von Werten, Lebenszielen und Gesundheit – oder um einen geliebten Menschen, der gestorben ist.

Trauer gibt es in jeder Kultur. Wie man damit umgeht, kann jedoch unterschiedlich aussehen. Viele verdrängen ihre Trauer, indem sie sich ablenken. Das hilft – zumindest kurzfristig. Wenn man einen Verlust aber wirklich bewältigen will, bedarf es einer bewussten Trauerarbeit.

Nun ist es aber so, dass das Thema Tod in Familie und Gesellschaft westlicher Kulturen weitgehend aus dem Alltag verdrängt wurde. Der Tod findet meist nicht mehr zu Hause statt, sondern in Krankenhäusern oder im Hospiz. Oft bekommen die Kinder nichts mit, weil die Erwachsenen sie vor Gefuhlen wie Trauer, Verzweiflung oder Angst abschirmen und schützen wollen. Allerdings erleben Kinder dadurch weder den Tod noch die damit verbundenen Rituale als etwas, das natürlicherweise zum Leben gehört.

Was heißt endgültig?

Und dennoch: Kinder begegnen dem Tod. Eltern sprechen über den verstorbenen Nachbarn, ein geliebtes Haustier stirbt oder jemand aus dem unmittelbaren Familienkreis. In solchen Kontexten fragen Kinder nach der Vergänglichkeit. Und sie wollen Antworten, die ihnen Orientierung und Sicherheit geben. Kinder verstehen jedoch etwas anderes unter dem Begriff Tod als Erwachsene. Selbst Fünfjährige begreifen oft noch nicht, dass der Tod endgültig ist. Sie schreiben Verstorbenen Bedürfnisse zu: Ihnen konnte kalt sein oder sie konnten sich in der Dunkelheit unter der Erde fürchten.

Meist nehmen Kinder in diesem Alter Erklärungen der Erwachsenen wörtlich, etwa bei: „Die Oma schaut vom Himmel auf dich herab.“ Die Vorstellung, dass die verstorbene Großmutter einen ständig beobachtet, kann verunsichern. Erst mit zunehmendem Alter und durch Erklarungen verstehen Kinder, was der Tod ist. Dann begreifen sie auch das Konzept der Non-Funktionalität: Der Körper funktioniert nicht mehr, das Herz hört auf zu schlagen und die Atmung steht still. Sie verstehen: Der Tod hat Ursachen und ist nicht auf mein eigenes Denken, Sprechen und Handeln zurückzuführen – was jüngere Kinder oft noch glauben: „Ich habe gesagt, er soll tot sein, und jetzt ist er wirklich tot.“

Ob ein Kind den Tod als etwas akzeptieren kann, das real ist, zum Leben gehört und zudem unumkehrbar ist, hangt entscheidend von den Erklärungen der Erwachsenen ab. Erwachsene müssen den Tod beim Namen nennen – so vermeiden sie Irritationen, Verunsicherungen oder gar Ängste bei Kindern. Verharmlosende oder beschönigende Umschreibungen, die die Realität des Todes unklar ausdrucken, fuhren zu Missverständnissen. Widersprüchliche Ausdrucksweisen sind etwa:

  • „Opa ist eingeschlafen.“ Dem Kind wird suggeriert, dass Schlaf und Tod identisch sind. Es kann Angst vor dem Einschlafen bekommen, weil es glaubt, es selbst, seine Eltern, Geschwister oder andere nahestehende Personen konnten im Schlaf verschwinden oder nicht mehr aufwachen.
  • „Oma ist auf einer langen Reise.“ Die Oma ist weggegangen, ohne sich zu verabschieden. Das Kind ist enttäuscht, es wartet und hofft darauf, dass sie zurückkehrt.
  • „Der Nachbar wohnt jetzt im Himmel.“ Für junge Kinder kann es sehr schwierig sein, diese Aussage mit der Tatsache der Beerdigung in Einklang zu bringen. Wie ist es möglich, dass jemand unter die Erde gebracht wird und gleichzeitig im Himmel wohnt?
  • „Wir haben Oma verloren.“ Junge Kinder erwarten, die Oma wiederzufinden. Dinge gehen verloren und man findet sie wieder – aus Sicht des Kindes muss das auch im Fall des Todes möglich sein.
  • „Jule ist gestorben, weil sie krank war.“ Diese Erklärung scheint ehrlich und korrekt. Bei einem Kind kann sie jedoch Verunsicherung und Angst vor Krankheiten auslosen. Es ist wichtig, Kindern zu erklären, dass es Krankheiten gibt, die so schwer sind, dass Menschen daran sterben, aber nicht jede Krankheit zum Tode fuhrt.
  • „Linus ist im Krankenhaus gestorben.“ Auch diese Erklärung kann sachlich richtig sein, greift aber zu kurz. Kinder konnten annehmen, dass jeder Mensch, der im Krankenhaus ist, sterben muss.

Grundsätzlich bestimmen die Fragen des Kindes das Gespräch über den Tod – den Zeitpunkt, die inhaltliche Richtung und das Tempo. Kinder sollten wissen, dass es in Kita und Familie immer Raum für ein Gespräch zum Thema Vergänglichkeit, Tod und Trauer gibt. Klar und deutlich darüber zu sprechen, ist wichtig. Dazu müssen sich auch Fachkräfte mit dem Tod auseinandersetzen. Reflexionsfragen sind ein guter Einstieg. (Impulse finden Sie im Kasten auf S. 27.) Eine Alternative ist, ausgehend vom Zitat von Mascha Kaleko, in Kleingruppen oder in Eigenarbeit Skulpturen herzustellen – aus Karton, Farbe oder auch Knetmasse – und dadurch den eigenen Erfahrungen eine Gestalt zu geben.

Jeder auf seine Weise

Sterben, Tod und Trauern gehören zum Leben – auch zu dem von Kindern. Sie trauern aktiv und können die Trauer mit der Hilfe von Erwachsenen bewältigen. Doch Kinder trauern anders als Erwachsene, denn sie leben im Hier und Jetzt: Auf sehr große Traurigkeit und hemmungsloses Weinen kann schnell ein fröhlich-ausgelassenes Spielen folgen. Dadurch ist der Trauerprozess von Kindern von außen weniger klar erkennbar als bei Erwachsenen.

Die Theologin Corinna Hirschberg teilt Trauerprozesse, angelehnt an den Theologen Yorick Spiegel, in folgende Phasen ein:

  1. Schock: Eine plötzlich eintreffende, unerwartete Todesnachricht kann einen Schock auslosen. Symptome sind inneres Erstarren und Leugnen des Todes. Das Kind versucht so zu tun, als sei nichts geschehen. Damit entlastet es sich im ersten Moment und kann selbst bestimmen, wie nah es die Todesnachricht an sich heranlasst. Es ist wichtig, Kindern die Nachricht in einer ruhigen Situation mitzuteilen. Sie brauchen Zeit, um ihr Erleben zu ordnen und Antworten auf ihre Fragen zu erhalten. Sie sind dabei auf möglichst konkrete Informationen angewiesen, da sie ihre Sprachlosigkeit nicht durch Fragerituale überwinden können.
  2. Kontrolle: Der Schock klingt nach etwa ein bis zwei Tagen ab. Bei Kindern, die ein hohes Mas an Selbstkontrolle haben, folgt die kontrollierte Phase: Sie sind ruhig, weinen nicht, zeigen kein auffälliges Verhalten und passen sich weitgehend der Umwelt an. Kinder mit weniger Selbstkontrolle zeigen ein eher unbeherrschtes und wechselhaftes Verhalten. Hinzukommen kontrollierende Maßnahmen aus der Umwelt: Sie zeigen sich in Erwartungen, Regeln oder Verhaltensweisen Nahestehender, die das Kind versucht einzuhalten oder zu imitieren. Erkennt das Kind die Verhaltenskodexe jedoch nicht, reagiert es irritiert oder fühlt sich von vertrauten Personen entfremdet.
  3. Regression: Die Phase der Regression ist die intensivste im Trauerprozess. Regression bezeichnet ein Verhalten, bei dem Menschen auf früher erworbene, besonders kindliche Verhaltensmuster zurückgreifen, so wie das Daumenlutschen oder Einnässen. Die hoch emotionale Phase der Regression im Prozess des Trauerns zeichnet sich durch Weinen, Klagen, Wutanfalle, aber auch Scham- und Schuldgefühle aus. Die Folge kann eine psychische Desorganisation sein. Bei Kindern, besonders im Vorschulalter und frühen Schulalter, kommt häufig eine Ursachenpersonalisierung hinzu: Ein anderer oder die eigene Person hat sich falsch verhalten und deshalb muss man nun einen Verlust erleiden: „Ich habe mir gewünscht, der Opa soll einfach weg sein, und nun ist er tot.“ Die damit einhergehenden Scham- und Schuldgefühle und die seelische Überlastung konnen Kinder nicht oder nur anteilig verbal ausdrucken. In dieser Phase reagieren sie häufig mit Rückzug und können apathisch wirken. 
  4. Adaption: Nach dieser Phase öffnen sich Kinder wieder ihrer Umwelt und nehmen aktiv am alltäglichen Leben teil. Sie nehmen Beziehungen zu anderen auf und integrieren den Tod in ihr Leben. Das Vertrauen in die Welt und die Freude am Leben kehrt zurück. Die Erinnerung an den verstorbenen Menschen ist nicht mehr aufwühlend. Die Verlusterfahrung fügt sich in den Alltag ein und ist zu einem bedeutsamen Teil des Lebens geworden. Daher ist es für die Trauerbewältigung wichtig, Kindern diese Phasen zuzugestehen und sie in jeder dieser Phasen individuell zu unterstutzen. Eine der wichtigsten Erfahrungen für Kinder ist es, in ihrer Trauer nicht allein zu sein. Durch Gespräche, Nahe und Beziehung erleben Kinder, dass sie mit ihren Fragen, Sorgen, Ängsten und Gedanken wahr und ernst genommen werden. Kitas übernehmen hier eine wichtige Rolle.

Die Kita gibt Halt

Der Kita-Alltag bietet einen sicheren Rahmen, um Kindern Raum und Zeit zu geben, sich mit Trauer und Tod auseinanderzusetzen. Aufmerksame Fachkräfte können durch Beobachtung erkennen, was das Kind im Moment erlebt. Sie können Gefühle aufgreifen und Trauer thematisieren. Das unterstutzt Kinder darin, sich darüber im Klaren zu sein, was sie fühlen und brauchen.

In folgenden Bereichen kann die Kita helfen:

  • Bezugspersonen: Sie geben Sicherheit und sind für die Kinder da. Kinder brauchen Erwachsene, die aufrichtig auf ihre Fragen eingehen, auch eigene Ungewissheiten thematisieren, sich Zeit nehmen Gefühle zu spiegeln, Wörter dafür zu finden und im Dialog Geborgenheit zu vermitteln.
  • Gemeinschaft: Trauernde Kinder brauchen die Gemeinschaft anderer trauernder Menschen. Das eigene Leid ist für Kinder besser zu bewältigen, wenn andere Menschen auch trauern oder um die Gefühle im Trauerprozess wissen. Wenn Erwachsene im nahen Umfeld betroffen sind oder weinen, können sich auch die Kinder ihren Gefühlen hingeben. Die gemeinsame Trauer verbindet emotional und hilft dabei, sich mit dem Tod zu versöhnen.
  • Rituale: Beim Abschiednehmen einer nahestehenden Person ist es wichtig, dass Kinder Rituale erleben. Erwachsene können Kinder beim Einordnen der Rituale und Brauche unterstutzen.
  • Trauerphasen: Kinder brauchen Zeit für ihre Trauerphasen. Ablenken, zur Tagesordnung übergehen und so zu versuchen, den Prozess zu verkürzen oder ihn den Kindern ersparen zu wollen – das sind Strategien, die nicht zur Bewältigung der Trauer beitragen.
  • Orte: Kinder brauchen Orte, um sich zurückziehen zu können und an denen sie sich mit ihren Gefühlen aufgehoben fühlen. Das können selbst gewählte Wohlfühlorte oder Erinnerungsplatze sein, die Kinder selbst gestalten. Ebenso wichtig sind trauerfreie Orte, an denen ein unbeschwerter Alltag mit anderen Kindern stattfindet – mit fröhlichem Lachen und ausgelassenem Spiel für Trauerpausen.
  • Ausdrucksformen: Durch ästhetisches Gestalten, wie Malen, freies Spielen, Rollenspiel, Tanzen, Singen oder auch dem Gestalten mit Ton, können Kinder ihre Trauer, Gefühle und Sichtweisen oftmals besser ausdrucken als durch bloße gesprochene Worte.

Trauer ist eine selbstverständliche emotionale Reaktion auf einen Verlust. Wie gut Kinder einen Verlust bewältigen, hangt auch von dem Umgang mit dem Thema Tod und Trauer ab. Unabhängig vom Alter sollten Kinder erfahren: tote Person kommen nicht mehr zurück, der Tod kommt zu allen Lebewesen, es ist natürlich, traurig zu sein und sich zu wünschen, die verstorbene Person möge wieder lebendig sein. Werden und Vergehen, Loslassen und Abschiednehmen, Leid, Sterben, Tod und Trauer sind elementare Themen, die Kinder bewegen. Geben wir diesen Themen Raum, können Kinder Kompetenzen entwickeln, um auch zukünftige Erfahrungen mit dem Tod zu bewältigen.


Impulsfragen für das Team - Wie sehe ich den Tod?

  • Welches Ereignis in meinem Leben hat dazu geführt, dass ich bisher selbstverständliche Dinge infrage stelle?
  • Was bedeutet es für mich, um etwas Verlorenes zu trauern?
  • Welche Erfahrungen habe ich im Umgang mit Trauer? Wie haben mich die Ereignisse geprägt? Wie hat meine Umgebung reagiert? Was habe ich daraus gelernt? Haben sich meine Reaktionsmuster dadurch verändert? Was hätte ich gebraucht?
  • Kann die Trauer um etwas Verlorenes eine positive Erfahrung schenken? Welche?
  • Welche Erfahrungen habe ich mit trauernden Menschen? Welche Reaktion habe ich als Trauerreaktion verstanden und wie bin ich damit umgegangen? Mit welchen Reaktionen kam ich zurecht und mit welchen nicht? Woran lag das?

Sie interessieren sich für die weitere verwendete Literatur? Die Liste steht hier für Sie bereit: http://bit.ly/tps-literaturlisten

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