23.10.2023
Eva Spalke, TPS Redaktion

Lesekompetenz in der Kita

Interview

Jedes vierte Kind in Deutschland kann am Ende der Grundschulzeit nicht richtig lesen. Das Ergebnis der jüngsten Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (Iglu) schockt. Aber sind jetzt nur die Schulen gefragt, oder hat das Ergebnis auch Konsequenzen für die Kita? Wir haben bei einem Kita-Leiter und einem Fachberater nachgefragt.

TPS

Herr Bagci, Sie sind Leiter einer Kita in Köln. Was sagen Sie zu den Ergebnissen der Iglu-Studie?

Herman Bagci: Überrascht hat mich das Ergebnis nicht. Wir betreuen insgesamt 83 Kinder, unsere Kita liegt in Köln-Vingst, einem Sozialraum mit Handlungsbedarf. Zum einen beobachte ich ältere Geschwisterkinder, die uns besuchen kommen. Selbst nach zwei bis drei Schuljahren sehe ich keine große Verbesserung ihres Wortschatzes. Außerdem beobachte ich jeden Morgen, wie die Kinder von ihren Eltern gebracht werden. Viele von Ihnen sitzen im Kinderwagen und schauen in ein Smartphone. Manche Eltern bringen selbst ihre Fünfjährigen noch im Buggy zur Einrichtung. Ein Buch hat kaum ein Kind in der Hand. Das gleiche passiert beim Abholen. Viele Eltern kommen mit dem Handy am Ohr in die Kita. Das Smartphone ist allgegenwärtig – obwohl wir in der Einrichtung ein Handyverbot haben und regelmäßig darauf hinweisen.

Herr Esser-Greassidou, Sie sind Fachberater. Was denken Sie, welche Konsequenzen haben die Studienergebnisse für die Kita?

Florian Esser-Greassidou: Sie sind ein Weckruf. Durch die Studie und die Präsenz in den Medien rückt Sprache und speziell das Lesen wieder in den Vordergrund. Sprache ist das wichtigste Werkzeug, damit wir uns in der Welt zurechtfinden können. Ist mein Wortschatz nur gering, hat das Auswirkungen auf meine späteren beruflichen Chancen. Alles baut aufeinander auf. Die Studie erinnert uns Fachkräfte: Lesen ist wichtig – und beginnt schon in der Kita. Wir sollten wieder mehr Vorlesen und mit den Kindern Bilderbücher betrachten.

Als Leitung muss ich dazu schauen: Wie ist mein Team aufgebaut? Wer mag Bücher? Wer liest selbst in der Freizeit viel? Es gibt Fachkräfte, die nicht gerne laut vor einer Gruppe lesen. Sie schämen sich, wenn Kolleginnen und Kollegen zuhören. Hier müssen wir schauen, wie wir diese Fachkräfte fortbilden und stärken können. Ich hoffe, dass wir durch die Studie das Thema nochmal bewusst aufgreifen und prüfen: Was machen wir schon in der Kita? Und wo können wir mehr machen?

Wie kann man die Neugier auf Bücher und Literatur bei Kindern wieder wecken?

Bagci: Ich habe 2020 die Leitung in unserem Haus übernommen, mitten in der Pandemie und mitten im Lockdown. Dadurch, dass weniger Kinder und Eltern im Haus waren, konnte ich mir Räume und Material in Ruhe ansehen. In der Bibliothek habe ich viele veraltete Bücher gefunden, wie den Regenbogenfisch. Den Bestand wollte ich aufstocken. Einerseits mit Klassikern wie dem Grüffelo, andererseits habe ich, als die Kinder wieder in die Kita kamen, nach den Interessen geschaut. Was ist auf ihrer Kleidung, Taschen und Brotboxen abgebildet? Welche Heldinnen und Helden mögen sie? Egal ob Paw Patrol, Ninjago oder Elsa – ich habe Kinderbücher dazu bestellt. Und egal zu welchem Thema, es gibt gute Bücher dazu. Die Bücher kamen gut an. Die Kinder haben sie alleine angeschaut, oder uns gefragt, was denn da steht. Manche Fachkräfte kritisieren solche Bücher. Aber ich frage mich: Was bringt es, wenn ich Bücher habe, die nicht gelesen werden? Dann suche ich doch lieber gezielt nach Material, das die Kinder anspricht und führe sie so an das Medium Buch heran.

Esser-Greassidou: Ich finde Herrn Bagcis Idee super. Ich kann mir zwar auch vorstellen, dass einige Leitungen hier sagen würden: Bloß nicht! Die Actionfiguren sehen die Kinder doch schon den ganzen Tag im Fernsehen. Aber ich denke, das sollte jede Kita für sich selbst entscheiden. In unseren Kitas arbeiten die Fachkräfte zum Beispiel mit Kamishibai. Das ist ein Erzähltheater, bei dem auch vorgelesen werden kann. Ich persönlich bin ein großer Fan vom klassischen oder dialogischen Bilderbuchbetrachten. Gerade in den Morgenstunden, wenn noch nicht so viele Kinder da sind, ergibt sich oft eine tolle Atmosphäre zum Vorlesen. In meiner alten Einrichtung hatten wir ein Buch der Woche. Jedes Kind durfte ein Buch von zuhause mitbringen, dass wir dann gemeinsam gelesen haben. Oder die Eltern kamen zu einem Vorlesenachmittag in die Kita. Eine Kita, mit der ich arbeite, hat eine Kooperation mit der Schule im Ort. Dafür kommen Neuntklässler speziell zum Vorlesen in die Kita. Das ist für die Kinder besonders interessant, weil sie sich nicht nur auf das Buch freuen, sondern auch auf die neue Person.

Inwieweit spielen die Eltern bei der Lesekompetenz eine Rolle?

Esser-Greassidou: Eine noch größere als die Kita. Die Eltern sind die wichtigsten Vorbilder der Kinder. Wenn ich zuhause eine Bibliothek habe und selbst gerne lese, nehmen das die Kinder wahr – genauso auch, wenn ich nur am Handy oder Tablet herumhänge. Allein das Vorlesen beim Zubettgehen hat eine enorme Wirkung. Das heißt nicht, dass die ganze Arbeit bei den Eltern liegt und ich deshalb als Kita resigniere. Aber wir müssen die Eltern einbeziehen.

Bagci: Die Eltern sind Vorbilder. Es ist natürlich gut, wenn sie mal mit dem Kind ein Buch lesen. Aber wenn das Kind sieht, dass die Mama oder der Papa abends auf dem Sofa ein Buch lesen, wird das Medium automatisch interessant.

Esser-Greassidou: Richtig. Und genauso ist es, wenn die Kinder beobachten, dass die Eltern einen Brief schreiben. Oder eine Einkaufsliste. Die kann man auch gut zusammen mit den Kindern gestalten, und die Kinder können Lebensmittel aufmalen. Dann geht es nicht nur ums Lesen, sondern auch ums Erzeugen der Schrift.

Was empfehlen Sie Eltern, die nicht gut Deutsch sprechen oder auf Deutsch vorlesen können?

Bagci: Zuerst empfehle ich den Kitas, sich Bücher in verschiedenen Sprachen anzuschaffen. Am besten in den Sprachen, die die Kita-Familien daheim sprechen. Viele Buchverlage bieten mittlerweile eine gute Auswahl an Übersetzungen an, sei es Türkisch, Russisch, Polnisch. Diese Bücher kann die Kita dann den Eltern ausleihen. Das soll nicht heißen, das die deutsche Sprache zu vernachlässigen ist, jedoch sollten die Eltern zuhause nicht auf Deutsch vorlesen oder mit ihren Kindern Deutsch sprechen, wenn Sie sich in der Sprache unsicher fühlen. Denn, und das kann man gar nicht genug betonen: Die Muttersprache ist wichtig. Es ist viel besser, die Sprache zu nutzen, in der man sich sicher ist. Das sagen wir den Eltern von Anfang an.

Esser-Greassidou: Wir nutzen auch zweisprachige Kinderbücher. „Der kleine Eisbär“ wurde zum Beispiel auf Griechisch und Deutsch herausgegeben. Der griechische Text steht unter dem deutschen. So kann ich als Fachkraft das Buch in der Kita auf Deutsch vorlesen, und die Eltern zuhause dann in der jeweiligen anderen Sprache. (Anm. der Red.: Eine Übersicht, welche Verlage fremdsprachige und zweisprachige Ausgaben anbieten, finden Sie unter: www.klett-kita.de/blog/buecher-als-bruecke-zwischen-den-sprachen.) Generell denke ich, dass die Initiative zum Vorlesen von den Erwachsenen kommen muss. Wir sollten immer wieder Angebote machen und öfter dazu auffordern: ‚Hey, lass uns mal ein Buch anschauen!

Herman Bagci leitet eine städtische Kita in Köln. Er hat an der Hochschule Koblenz Sozialmanagement mit dem Schwerpunkt frühe Kindheit studiert. Am liebsten liest er Thriller oder Sachbücher. Sein Lieblingskinderbuch ist die kleine Raupe Nimmersatt.

Florian Esser-Greassidou ist Pädagoge und freiberuflicher Autor und als Qualitätsleitung für vier Kitas in NRW verantwortlich. Im Moment liest er am liebsten mit seinem einjährigen Sohn „Der kleine Eisbär“.

Bildquellen Rafa Fernandez Torres / GettyImages
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