13.11.2023
Barbara Baedecker

Diagnose für Pippi

Ob Pippi eine Narzisstin ist und wie Sprache uns beeinflusst

Sie lügt. Sie kommandiert. Sie weigert sich, auf Erwachsene zu hören: die kleine Narzisstin Pippi Langstrumpf. Aber halt: Stimmt dieses Bild? Welche Kraft unsere Sprache hat, warum wir eigene Glaubenssätze und Erwartungen hinterfragen müssen und wie wir damit das Selbstbild der Kinder stärken.

TPS

Das neunjährige Mädchen“, schreibt die Autorin Laura James, „weigert sich, in die Schule zu gehen. Zu Kindern und Erwachsenen spricht es in autoritärem Ton und verlangt von allen, seine Ideen umzusetzen. Ihr Verhalten in gesellschaftlichen Situationen wird als störend empfunden. So versucht es, das Essen mit den Füßen zu greifen. Oder es ruiniert eine Torte mit den Händen, nur damit es diese al-lein aufessen kann. Außerdem er-zählt es ständig frei erfundene Geschichten und gibt kurz darauf freudig zu, gerade gelogen zu haben. Familiärer Hintergrund: Die Mutter ist verstorben, als es noch ein Klein-kind war. Der Vater kümmert sich nach Aussagen von Nachbarn in erster Linie finanziell um das Mädchen. Diagnose: Das Mädchen weist bestimmte Züge einer Störung auf, die mit denen einer schizotypen Persönlichkeitsstörung übereinstimmen. Andere Verhaltensmuster gehören eher in den Bereich der narzisstischen Persönlichkeitsstörung.“

Psychatrische Brille

Kennen Sie dieses Kind? Es ist Pippi Langstrumpf. Die Autorin Laura James schaut durch eine psychiatrische Brille auf die Helden unserer Kindheit. Wie geht es Ihnen mit dieser Sicht? Spüren Sie, welche Macht die Sprache beim Lesen hat? Wir beschreiben nicht einfach nur, nein, wir erzeugen Wirklichkeiten. Indem wir unsere subjektive Wahrnehmung einer Person in Worte fassen, tun wir so, als wäre diese Person wirklich so. Als Pädagoginnen und Pädagogen ist es unsere Aufgabe, zu reflektieren, welche Botschaften wir mit unseren Worten transportieren. Welches Bild einer Person erzeugen wir dadurch?

Unsere Gefühle und unser Handeln sind geprägt durch den Wert, den wir uns selbst geben. Dieser Wert speist sich aus den Erfahrungen, die wir in unserer Kindheit im Zusammenleben mit anderen Menschen gemacht haben.

Oft verinnerlichen wir die Stimmen der anderen, sodass wir sie für unsere eigenen halten. Manche dieser Stimmen sind liebevoll und ermunternd, andere streng und abwertend: Du bist wunderbar und du schaffst das. Oder: Mach das ordentlicher und jammere nicht schon wieder.

Der Psychologe Fabian Grolimund definiert unser inneres Denk- und Glaubensgefüge als Glaubenssätze. Er schreibt: „Kern-Glaubenssätze sind verinnerlichte Überzeugungen über sich, die anderen und die Welt, die man meist relativ früh erworben hat und die sich subjektiv als wahr anfühlen.“ Diese Glaubenssätze bilden unsere Haltung.

Schwächende Glaubenssätze beginnen oft mit: „Ich bin … Ich muss … Ich darf nicht …“ Ich-bin-Sätze sagen etwas über meinen Wert aus: Ich bin klein, schwach und nicht klug genug. Ich-muss-Sätze und Ich-darf-nicht-Sätze sind Strategien, um die eigenen Kernbedürfnisse nach Autonomie, Kontakt und Sicherheit zu befriedigen: Ich muss immer alles richtig machen, auf die Gefühle an-derer Rücksicht nehmen, Erwartungen erfüllen. Ich darf keine Fehler machen, nicht widersprechen, nicht so sein, wie ich bin.

Stärkende Glaubenssätze sind viel seltener. Sie zu formulieren, ist einfach. Sie sind das Gegenteil der schwächenden Sätze: Ich bin groß, stark und klug. Ich muss nicht immer alles richtig machen, ich muss auf meine Gefühle achten und nicht alle Erwartungen erfüllen. Ich darf Fehler machen, ich darf widersprechen und ich darf einfach so sein, wie ich bin.

Die Resilienzforschung zeigt uns eine weitere Möglichkeit, um stärkende Glaubenssätze zu entwickeln. Nehmen wir uns die Zeit – im Team oder mit den Kindern. Suchen wir nach Worten und Bildern, die uns stärken. Die folgenden Fragen können dabei helfen:

  • Welche inneren Stärken habe ich?  Ich bin mutig, reflektiert oder geduldig.
  • Welche sozialen Fähigkeiten habe ich? Ich kann helfen, mich öffnen oder zuhören.
  • Welche Unterstützung habe ich? Meine Freundin, meine Kollegin, meine Nachbarin.

Entscheidend für unser pädagogisches Handeln sind unsere Erwartungen an das Kind: Wie soll ein Kind in unseren Augen sein? Klug, mitfühlend oder sportlich? Was braucht es dabei für ein gelingendes Leben im einundzwanzigsten Jahrhundert? Lesekompetenz, Empathie oder Durchsetzungskraft? Daraus leiten wir Erziehungsziele ab. Sollen Kinder gehorchen, einlenken und nachgeben? Oder setzen wir darauf, dass sie Vielfalt kennenlernen, sich mitteilen und kooperieren?

Mit einem stärkenden Blick schaffen wir die Voraussetzung für Vertrauen: in uns selbst und in die Kinder. Mit unserer professionellen Unterstützung werden die Kinder ihr Potenzial entfalten und ihren Weg gehen. Das ist unsere Aufgabe. Denn Kinder sind die Rechtsträger und haben einen gesetzlichen Anspruch darauf. Im Sozialgesetzbuch steht: „Tageseinrichtungen für Kinder und Kindertagespflege sollen die Entwicklung des Kindes zu einer selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit fördern.“ (Sozialgesetzbuch Achtes Buch, Kapitel 3, Abschnitt 3, Paragraf 22)

Starre Bilder

Marie streitet sich mit Ayla. Ayla weint, Marie ist wütend. Es fällt uns nicht immer leicht, stärkende und freundliche Worte zu finden. Der Streit und das Weinen stressen uns. Schauen wir genauer hin, stellen wir fest, dass wir starre Bilder im Kopf haben: Marie ist streitsüchtig. Ayla ist ein weinerliches Mädchen. Dieses Bild, das wir in uns erzeugt haben, verdeckt uns die klare Sicht: Warum, mit welchem Ziel, verhalten sich die beiden so? Was steckt dahinter?

Pädagogisch professionell zu handeln bedeutet, das situative Handeln eines Kindes nicht mit der Person des Kindes gleichzusetzen: Tobias ist nicht aggressiv. Er verhält sich aggressiv. Weil er überfordert ist, müde oder seine Impulse noch nicht allein steuern kann. Er braucht keine Schublade, in die er gesteckt wird, sondern unsere Unterstützung.

Wir brauchen dafür einen inneren Ort des Wohlwollens. Aus diesem heraus können wir – unabhängig von Rahmenbedingungen – Kinder in einer ermutigenden Sprache unterstützen. So können sie ihre Stärken ins Leben bringen und dabei vermeintliche Schwächen als Lernfelder annehmen.

Im Folgenden finden Sie ermutigende Sätze. Diese sind vier Zielen zugeordnet: Bestärken, Vertrauen, Würdigen und Anerkennen. In Teamsitzungen können Sie, von diesen vier Zielen ausgehend, individuelle Sätze formulieren.

1 Bestärken

Eine Person annehmen bedeutet, sie bestärken durch die Botschaft: Ich sehe dich, so wie du bist. Es ist okay, so wie du bist.

  • Du hast so großen Spaß am Fußballspielen. Magst du mir erzählen, was daran toll für dich ist?
  • Ich kann sehen, dass du gerade unzufrieden bist. Hast du eine Idee, was dir helfen könnte?
  • Du bist traurig. Magst du mir erzählen, was dich traurig macht?
  • Du hast dein Bestes gegeben – mehr ist nicht möglich.
  • Es ist wunderbar, dass es dich gibt – so wie du bist.

2 Vertrauen

Vertrauen heißt, dass wir einer Person Zuversicht vermitteln durch die Botschaft: Ich weiß, dass du das kannst. Du wirst es schaffen.

  • Es ist schön, dass du weißt, wo du dir Hilfe holen kannst.
  • Du schaffst das in deinem Tempo und auf deine Weise.
  • Wie ich dich kenne, wirst du herausfinden, wie du das am besten machst.
  • Das ist zwar schwierig, aber ich denke, du wirst eine Lösung für dich finden.
  • Ich vertraue dir.

3 Würdigen

Wir würdigen das bereits Erreichte, indem wir die Botschaft vermitteln: Ich sehe, dass du dich anstrengst und dass du dranbleibst.

  • Merkst du, wie viele Fortschritte du schon gemacht hast?
  • Wenn ich mir vorstelle, wie schwer das für dich ist, kann ich nur sagen: Gratuliere.
  • Es sieht aus, als hättest du dir viel überlegt. Magst du mir von deinen Ideen erzählen?
  • Ja, du hast dein Ziel noch nicht erreicht – aber du bist kurz davor.
  • Es ist toll, dass du dich anstrengst und an der Sache dranbleibst.

4 Anerkennen

Die Anerkennung einer Person bringen wir durch die Botschaft zum Ausdruck: Ich weiß dich zu schätzen. Ich weiß dein Tun zu schätzen.

  • Ich habe Achtung davor, wie du mit Schwierigkeiten umgehst.
  • Ich mag deinen Sinn für Humor. Da kann ich etwas von dir lernen.
  • Ich habe deine Hilfe gebraucht – und du warst da. Danke.
  • Es war sehr freundlich und aufmerksam von dir, das zu tun.
  • Ohne deinen Einsatz wären wir jetzt nicht so weit.

Innere versus äußere Welt

Jeder Mensch gestaltet seinen Zugang zur Welt aus seinem Inneren heraus. Zu einem Konflikt kommt es, wenn die innere Botschaft im Gegensatz zu einer äußeren Botschaft steht. Wenn ich sage: „Ich will.“ – Und die Welt sagt: „Du musst.“ Wenn also Max seinen Turm noch fertig bauen will, die Fachkraft aber darauf besteht, dass der Junge jetzt zum Essen kommen muss.

In der Interaktion zwischen Erwachsenen und Kindern kommt es immer wieder zu Konflikten. Und nicht selten wird die Frage nach der Schuld gestellt und diese dann dem Kind zugeschrieben. Denn das Kind zeigt, aus Sicht der Erwachsenen, ein oftmals herausforderndes Verhalten – wie es auch Erwachsene zeigen können, wenn sie in Konflikten oder unter Stress agieren. Herausforderndes Verhalten ist nie gegen den anderen gerichtet, sondern immer – unabhängig vom Alter – der Versuch, das innere Selbst zu bewahren und gleichzeitig mit der äußeren Welt zurechtzukommen. Erwachsene weisen in solchen Situationen oft die Verantwortung von sich, mit dem Hinweis: Ich bin auch nur ein Mensch. Kindern gesteht man das meist nicht zu. Ihnen unterstellt man zuweilen, dass sie das Gegenüber ärgern wollen. Hier zeigt sich ein eklatanter Mangel an Gleichwürdigkeit.

Pippi dagegen ist voller Selbstvertrauen: „Wunderbar! Bezaubernd!“, sagte sie. „Was findest du so bezaubernd?“, fragte Tommy. „Mich“, sagte Pippi zufrieden.

Bildquellen GettyImages / gyro
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