21.02.2020
Anne Frey ©Lisa5201/GettyImages
Redaktion

Bildungsraum Natur – Draußen: der gesündeste, vielseitigste und anregendste Raum der Kita

Für natürliche Außenräume wie Garten, Feld, Wald und Wiese gibt es keine künstlichen Ersatzräume. Daher ist es umso wichtiger, dass sich die Kitas auch nach außen öffnen. Um den Kindern den Bildungsraum Natur zu öffnen, braucht es PädagogInnen, die selbst mit Liebe, Lust und Leidenschaft im Außenbereich arbeiten – und auf jedes „Ja, aber …“ eine gute Antwort parat haben. Anne Frey hält ein Plädoyer für den Außenbereich als vielseitigsten Raum in der Kita.

Text: Anne Frey
Bild: ©Lisa5201/GettyImages

„Kinder gehören an die frische Luft!“ – Das hat meine Oma bereits vor 30 Jahren treffsicher auf den Punkt gebracht. Mit diesem Satz ist eigentlich auch schon alles gesagt und ich könnte meinen Beitrag hier beenden, gäbe es nicht immer wieder Ängste und Vorurteile gegenüber dem Spielen in der Natur. Während die Menschen bis vor gar nicht allzu langer Zeit selbstverständlich in und mit der Natur lebten, verbinden heute viele das Draußensein mit Risiken und Gefahren. Diese „Risikoverknüpfung“ erlebe ich nicht nur bei überbesorgten „Helikoptereltern“.

Auch ErzieherInnen überraschen mich immer wieder mit „Ja, aber …“-Sätzen: „Ja, aber heute ist zu kalt, die Kinder sind zu dünn angezogen.“, „Ja, aber heute ist es viel zu nass draußen, die Kinder werden alle krank.“, „Ja, aber heute ist es zu heiß, die Kinder könnten einen Hitzschlag bekommen!“, „Ja, aber heute ist es draußen zu matschig, wie erklären wir die schmutzigen Sachen?“, „Ja, aber der Wald ist nicht sicher, wie sieht das denn eigentlich rechtlich aus?“ Draußen kann so viel passieren – oder?

Ängste von Eltern und ErzieherInnen – und Gegenthesen

Alle diese Ängste stehen immer im Zusammenhang mit der Rechtfertigung gegenüber besorgten Eltern und dem eigenen Befinden. Die Aussagen der Kolleginnen haben mich dazu angeregt, für einen Elternabend einige gewagte Statements aufzuschreiben und als Impulse in unserem Garten zu verteilen.

Die Natur steckt voller Gefahren. Prima – nichts wie hin!

Unebener Boden, über den man stolpern kann. Steine, die geworfen werden, auf den eigenen Fuß oder die Finger fallen können. Stöcke, aus denen Schwerter werden. Hügel rauf und Berge runter, die zur Herausforderung werden. Baumstämme zum Balancieren. Tierbegegnungen, Pflanzen, die giftig sind – oder nicht? Keine Prüfstelle war da und hat entschieden, wo sich unsere Kinder warum nicht verletzen können. Es gibt wenige bis keine Regeln und Verbote (hoffentlich). Gerade deshalb können Kinder draußen eine gesunde Risikokompetenz erwerben.
Hier können sie ihre Grenzen testen, ganz vorsichtig und ungefährlich, in dem für sie richtigen und bzw. oder wichtigen Maße. Und das ist das einzige, was sie wirklich sicher macht.

Es gibt kein schlechtes Wetter, nur ungeeignete Kleidung

Wer passend angezogen ist, kann draußen jedes Wetter genießen. Wir können in Morgenkreisen oder Projekten wochenlang über das Wetter und
die Jahreszeiten reden – diese Gespräche können nie ersetzen, was Kinder beim Aufenthalt draußen über das Wetter und die Jahreszeiten erfahren.
Und ganz schnell lernen sie: Jedes Wetter hat seine Berechtigung und jede Wetterlage ist wichtig!

Rausgehen hält gesund. Drinnenbleiben macht krank

Gerade zur Infektzeit ist draußen der gesündeste Ort in der ganzen Einrichtung. Hier werden Viren nicht zur Massenvermehrung angeregt und
Schmierinfektionen kommen kaum zum Zuge. Nebenbei stärken wir unser Immun- und das Herz-Kreislauf-System.

Dreck ist gesund!

Fühlen, tasten, schmieren, kneten, anhäufen – natürliche Materialien wie Erde, Lehm, Ton, Sand, Laub regen die taktile und kinästhetische Wahrnehmung an. Durch zahlreiche Studien ist längst erwiesen, dass Kinder, durch deren Verdauungstrakt eine gewisse Menge Dreck gewandert ist, gesünder und weniger von Allergien betroffen sind.

Spielzeug gibt es draußen überall

Steine, Stöcke, Blätter, Ameisen, Käfer, Grashalme, Kastanien, Eicheln, Wurzeln … mehr brauchen Kinder nicht, um tief in eine magische Fantasiewelt zu entschwinden. Eimer, Schaufeln, Fahrzeuge und dergleichen stören dieses Abtauchen mehr als dass sie es fördern.

Pflanzen fressen Kinderlärm

Wer es nicht glaubt, sollte es ausprobieren. Halten Sie sich mit einer größeren Gruppe von Kindern in einem geschlossenen Raum auf. Gehen
Sie dann mit derselben Kindergruppe in die Natur. Wo entsteht mehr Lärm? Drinnen oder im Bildungsraum Natur?

Türöffner ErzieherIn

Außenspielgelände, Feld, Wald, Wiese – ohne großen finanziellen und organisatorischen Aufwand kann die Natur in den Alltag integriert werden.
Der Lern- und Bildungsraum Natur ist quasi schon eingerichtet. Es fehlt nur noch jemand, der die Tür öffnet, die begeisterte Kinderschar hinauslässt und sie begleitet. Und nun kommen wir zum entscheidenden Punkt: den Erwachsenen! In der Offenen Arbeit ist es ein Vorteil, dass die individuellen Ressourcen der Erziehenden optimal genutzt werden können. Sicher finden sich in jedem Team mindestens ein oder zwei Fachkräfte, die sich für die Natur begeistern, ihr vorbehaltlos begegnen, die sich draußen wohlfühlen und bestenfalls dieses Gefühl auch an andere weitergeben können.

Wer den Garten als Bildungsraum öffnen möchte, muss dies mit Liebe, Lust und Leidenschaft tun, um diese Emotionen auch bei Kindern zu wecken. Wenn man sich selbst im Regen unwohl fühlt, wird man niemals die Chancen eines Regentages erkennen und nutzen können. Wer Angst vor den „Gefahren“ der Natur hat, wird keinen unbedarften Umgang mit ihr vorleben, wer sich für die kleinen und großen Wunder der Natur nicht begeistern kann, der wird auch keine Begeisterung bei Kindern auslösen können. Und wer selbst nicht sicher ist in dem, was er tut, der wird auch den Ängsten von Eltern nicht mit Sicherheit begegnen können.

Den Kompetenzen der Kinder vertrauen

Umfassende, detaillierte Regelkataloge, die scheinbare Sicherheit vermitteln sollen, erachte ich für Außenräume als relativ unnütz. Solche Regelwerke verunsichern Erwachsene wie Kinder. Sie wirken sich auf Fantasie, Begeisterung und Risikokompetenz mehr destruktiv als konstruktiv aus. Ein überschaubarer Rahmen ist völlig ausreichend. Ich mache seit Jahren täglich immer wieder die Erfahrung, wie gut Kinder vor allem draußen einschätzen können, wo ihre persönlichen Grenzen liegen. Zudem ist es für den Aufbau eines gesunden Selbstbewusstseins wichtig, dass wir den Kompetenzen der Kinder vertrauen. Individuelle Situationen lassen sich in der ruhigen Umgebung des Bildungsraumes „Draußen“ auch gut individuell klären.

Unser "Bildungsraum Natur"-Konzept

Ich habe das große Glück, in einer Einrichtung zu arbeiten, die neben einem wunderschönen naturnahen Außengelände und direkter Feldrandlage auch über ein eigenes Waldgrundstück verfügt, das die Kinder in etwa 20 Minuten zu Fuß erreichen können. Das anliegende Außengelände ist einer unserer Bildungsräume und täglich mit derselben
Selbstverständlichkeit geöffnet, wie es die Innenräume auch sind. Das etwas abgelegene Waldgrundstück wird vielfältig genutzt, je nach personeller Verfügbarkeit auch als zusätzlicher Bildungsraum, zudem auch regelmäßig für Ausflüge und für Waldwochen. Auch Feld, Wiese und Bach werden einbezogen. Diese örtlichen Gegebenheiten bieten natürlich einen optimalen Rahmen und sind für unsere Einrichtung und die Kinder ein wahrer Segen. Ich bin mir jedoch sicher, dass sich mit etwas Begeisterung der Bildungsraum „Draußen“ in jede Einrichtung integrieren lässt.

Ein kleines Selbsterfahrungsexperiment

Abschließend möchte ich alle KollegInnen zu einem kleinen Experiment einladen. Wagen Sie es! Gehen Sie mit Ihren Kindern nach draußen und tun Sie es ganz bewusst. Nehmen Sie mit allen Sinnen wahr. Beobachten Sie die Kinder und halten Sie sich bewusst zurück. Wie erproben die Kinder ihr Können? Welche positiven Eigenschaften können Sie im gegebenen Wetter erkennen? Wie wirkt sich der Aufenthalt im Freien auf Ihren Körper aus? Was passiert mit den Rotznasen der Kinder? Wie fühlt sich Matsch an? Womit spielen die Kinder? Wie stark ist Ihr Lärmempfinden? Konnte ich Sie begeistern?

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